Der Weg nach oben

Der Weg nach oben

Das Grubenunglück von San José war nicht nur eine der größten Tragödien Chiles, sondern eins der größten Medienereignisse des Jahres 2010.

Es begann am 5. August 2010, als das Kupfer- und Goldbergwerk teilweise zusammenbrach und dreiunddreißig Bergleute in einer Tiefe von siebenhundert Metern einschloss. Erst siebzehn Tage später gelang es Rettern, Kontakt zu den Eingeschlossenen aufzunehmen. Es war mehr als ein Wunder: Alle dreiunddreißig Männer waren unversehrt geblieben. Sie hatten es sich, so gut es unter den Umständen ging, eingerichtet und arbeiteten jeden Tag daran, den Teil der Miene, in dem sie eingeschlossen waren, zu stabilisieren und nach möglichen Fluchtwegen zu suchen. Doch obwohl der Kontakt zu den Eingeschlossenen bereits das erste Wunder war – so konnten die Bergleute mit Nahrung, Frischluft, Medikamenten und anderem Material versorgt werden –, würde es noch weitere drei Monate dauern, bis sie alle wieder an der Oberfläche waren.

Geologische Bohrungen sind unter normalen Umständen schon ein wahnsinnig komplexes Unterfangen. Trotz aller technischen Mittel, die uns im 21. Jahrhundert zur Verfügung stehen, wissen wir nur sehr begrenzt, was sich unter der Erdoberfläche, auf der wir unsere Tage verbringen, verbirgt. Gewissheit gibt es erst, wenn man mit dem Bohren beginnt. Da hilft es nicht besonders, wenn die riesigen Bohrgeräte und dazugehörigen Maschinerie auf einem Gelände platziert werden müssen, das von Rissen unbekannter Ausdehnung überzogen ist, die jederzeit zu einem erneuten Einsturz des Bergs führen können.

Trotz aller Herausforderungen war es am 12. Oktober endlich soweit: Die Rettung konnte beginnen. Um 23:18 Uhr Ortszeit wurde der erste von insgesamt sechs Rettern zu den Eingeschlossenen heruntergelassen. Dann begann der Aufstieg.

Die Fénix 2 getaufte Rettungskapsel hatte eine Höhe von fast vier Metern, aber eine Breite von nur 53 Zentimetern. Zur Ausstattung gehörten drei Sauerstoffflaschen, Beleuchtung sowie Video- und Tonübertragung. Trotzdem frage ich mich, wie sich die Eingeschlossenen gefühlt haben müssen, als sie vor der Rettungskapsel standen. Haben sie Freudentränen geweint? Haben sie einen plötzlichen Anflug von Platzangst bekommen? Haben sie sich Sorgen gemacht, ob sie in dem Rettungsschacht stecken bleiben würden? Hatten sie Angst vor dem, was sie an der Oberfläche erwartet? Was immer sie gefühlt haben, es war der einzige Weg nach oben. Der einzige Weg zum Licht, der Weg zum Leben.

Mich hat dieses Bild eines Bergarbeiters, der sich dazu überwinden muss, die enge Kapsel zu betreten, nie losgelassen. Immer wieder sehe ich mich selbst vor meinem inneren Auge vor einer solchen engen, schmalen Kapsel stehen, die der einzige Weg nach oben ist.

Manchmal sind es Kleinigkeiten. Ich habe eine Zeit lang im obersten Stockwerk eines siebenstöckigen Wohnblocks gewohnt. Jeden Tag bin ich auf dem Weg zur Uni oder Arbeit die Treppen zu Fuß hinuntergelaufen, aber wenn ich zurückkam, nahm ich den Fahrstuhl. Bis es eine zweiwöchige Fahrstuhlwartung gab. Mit einem Mal stand ich am Hauseingang und hatte ungefähr einhundert Stufen vor mir, um zu meiner Wohnung zu gelangen. Ich war außer Atem, als ich oben angelangt war und merkte am eigenen Leib, wie sehr ich mich an den Komfort des Fahrstuhls gewöhnt hatte. Aber es gab keinen anderen Weg, wenn ich nach Hause wollte.

Dasselbe Gefühl hatte ich, als ich vor einiger Zeit meine Großmutter in Russland besucht hatte. Dass Russland ein großes Land ist, zeigt jede Weltkarte. Aber es sind Dimensionen, die unsere Vorstellung weit übersteigen. Greifbarer werden die Entfernungen erst, wenn man dort ist. In meinem Fall waren es vom Flughafen noch sechshundert Kilometer bis zur Stadt, wo meine Großmutter lebt. Ich hatte mir für die Strecke einen Mietwagen genommen, den ich nach der Landung am frühen Morgen abgeholt hatte. Es war eine schöne Strecke durch die Weiten Ebenen und die endlosen herbstlichen Taiga-Nadelwälder.

Die Rückfahrt war eine andere Sache. Auch der Rückflug ging um acht Uhr in der früh und es waren sechs Stunden Fahrt, mit denen ich rechnen musste. Ich hätte am Vortag schon fahren können, um mir in der Stadt, wo der Flughafen war, ein Hotel zu nehmen. Doch ich fühlte mich sprachlich nicht sicher genug und entschloss deshalb, mich spät abends auf den Weg zu machen und die Nacht durchzufahren. Es war eine anstrengende Fahrt. Ich hatte versucht, vorher ein wenig Schlaf zu bekommen, aber konnte drei Stunden nicht wirklich ein Auge zudrücken. Und die Fahrt durch die Dunkelheit über hunderte Kilometer von Serpentinen und endlose Geraden war trotz des Verwandten, der mich auf der Fahrt begleitete, eine Herausforderung für meine Konzentration. Doch es war der Weg nach Hause, es gab keinen anderen.

Am Abend, bevor Jesus ans Kreuz geschlagen wird, sucht er mit seinen engsten Freunden den Garten Gethsemane auf, um zu beten. Es ist eine der emotional intensivsten Szenen der Evangelien.

Da kommt Jesus mit ihnen an einen Ort namens Getsemani und sagt zu den Jüngern: Bleibt hier sitzen, solange ich weg bin und dort bete. Und er nahm Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus mit sich, und er wurde immer trauriger und mutloser. Da sagt er zu ihnen: Meine Seele ist zu Tode betrübt, bleibt hier und wacht mit mir.

— Matthäus 26:36-38

Die Evangelisten berichten uns viel darüber, was Jesus gesagt und getan hat, von seinen Predigten und Diskussionen, Wundern und Heilungen. Nur selten erfahren wir, was Jesus fühlt. Wir können nicht ergründen, wie Jesus die Gefühle, die uns überliefert werden, erlebt. Er ist Gott, der Herr des Universums, der die Sterne gezählt hat und bei Namen nennt. Er ist es, der vor aller Zeit schon war und in alle Ewigkeit sein wird. Seine Gefühle übersteigen alles, was wir uns vorstellen können, wie der Ozean ein kleines Aquarium im Wohnzimmer überragt – und noch viel mehr.

Und dennoch: Traurigkeit und Mutlosigkeit sind Begriffe, die uns vertraut sind. In denen wir uns wiederfinden. Wenn Lebensträume platzen. Wenn Menschen, die uns wichtig sind, von einem Schicksalsschlag getroffen werden. Wenn eine aussichtslose Situation trotz aller inständigen Hoffnung nicht besser zu werden scheint.

Und er ging ein wenig weiter, fiel auf sein Angesicht und betete: Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber. Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.

— Matthäus 26:39

Hatte Jesus dasselbe Gefühl gespürt, das Gefühl von einer engen Kapsel in einem dunklen Schacht, die der einzige Weg ist? Ich weiß es nicht. Menschliche Worte werden nie ausreichen, um die Gefühle Gottes zu begreifen. Es ist für uns schwer zu fassen, was Jesus hier ausspricht: dass er sich einen anderen Weg wünscht. Einen Weg, der weniger schmerzvoll ist, der ihn weniger Überwindung kostet. Und zugleich das andere: die völlige Hingabe an seinen Vater. Das unendliche Vertrauen, dass es der richtige Weg ist. Dass sich das Opfer lohnen wird. Dass es der himmlische Vater gut meint.

Gab es einen anderen Weg zur Rettung der Menschheit? Wir können bis in alle Ewigkeit spekulieren und endlos viele Versuche unternehmen, die Notwendigkeit und Unausweichlichkeit des Kreuzes zu verstehen. Doch alle Erklärungsversuche und Modelle müssen falsch sein, weil sich der Ewige, Grenzenlose nie in ein begrenztes Modell zwängen lässt. Wir wissen nur eins: dass Jesus kurz nach diesem Gebet von einem seiner engsten Freunde verraten wird und kaum vierundzwanzig Stunden später an einem Kreuz vor den Toren Jerusalems hängt, um die Menschheit von der Macht von Tod, Dunkelheit und Sünde zu erretten.

Bei einer seiner großen Predigten hat Jesus vom breiten Weg und dem engen Tor erzählt:

Tretet ein durch das enge Tor! Denn weit ist das Tor und breit der Weg, der ins Verderben führt, und viele sind es, die da hineingehen. Wie eng ist das Tor und wie schmal der Weg, der ins Leben führt, und wenige sind es, die ihn finden!

— Matthäus 7:13+14

Jesus verspricht nicht, dass der Weg ins Leben leicht ist. Er verspricht nicht, dass alles glatt laufen wird, sich all unsere Probleme mit einem schnellen Gebet beseitigen lassen und es alle Tage eitel Sonnenschein sein wird. Er verheißt Herausforderungen, Schwierigkeiten, Entbehrungen. Doch es wäre eine leere Forderung, wenn er sie nicht zugleich an sich selbst gerichtet hätte. Wenn er von anderen gefordert hätte, einen Weg zu gehen, den er selbst gemieden hat.

Jesus selbst ist uns den schmalen Weg, der zum Leben führt, vorausgegangen. Nicht in einem jenseitigen Leben nach dem Tod, in das sich unsere Seelen flüchten, wenn unsere Herzen nicht mehr schlagen. Sondern in seiner Auferstehung, die den Tod selbst zertrümmert und dessen Triumph auch vor den Toren des Totenreiches nicht Halt gemacht hat. Er bietet keine Weltflucht an, dass alles gut wird, solange wir nur die Zähe zusammenbeißen. Nein, er bietet am Kreuz seine ausgestreckten Arme, die alles Leid dieser Welt einschließen, todernst nehmen und in seiner Auferstehung überwinden. Und wenn er uns auffordert, den schmalen Weg zu gehen, dann will er uns an die Hand nehmen und nicht loslassen, bis wir dort sind, wo Leid, Tod und Tränen keine Macht mehr haben.

Am 13. Oktober 2010 um 17.59 Uhr war ich der 24. Mann, der die Miene verließ. Mit der Rettungskapsel Phoenix II wurde ich an die Erdoberfläche befördert. Ich war sehr glücklich, von Frieden erfüllt und freute mich über den Herrn. Die Fahrt dauerte neun Minuten, und die ganze Zeit über lobte ich Gott und dankte ihm.

Als ich oben ankam, riefen alle Leute laut nach mir, weil ich nichts sagte. Die meisten Männer schrien bei ihrer Ankunft voller Euphorie. Ich aber kam ganz still und glücklich an. Der Herr hat unsere Gebete erhört, und die Rettung verlief plangemäß, ganz so, wie er es wollte. Dafür danke ich Gott und gelobe, ihm den Rest meines Lebens zu dienen.

— José Henríquez: 70 Tage unter der Erde[1]


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  1. Henríquez, José: 70 Tage unter der Erde. Gießen: Brunnen-Verlag, 2012. ↩︎