Keine Worte

Keine Worte

Ich bin ein Mensch vieler Worte. Ich fühle mich oft wie ein streberhafter Grundschüler, wenn ich gefragt werde, was ich in meiner Freizeit mache, und sinngemäß mit „Lesen und Schreiben“ antworte, aber es stimmt. Ich lese sehr gerne und ich fasse gerne Gedanken (oder Geschichten) in Worte – wie dieser Blog zeigt.

Auf der Arbeit begegnen mir noch mehr Worte. Programmiersprachen wäre eigentlich richtig, aber auch die bestehen am Ende aus Worten: Wenn dies, tu das. Tu dies, solange das zutrifft. Wenn ein Fehler auf tritt, tu etwas anderes. Beim Autofahren oder Haushaltmachen höre ich Podcasts (je länger, desto besser!). Und wenn die Woche endet, kommen noch mehr Worte: die Predigt am Sonntag, die Lobpreislieder, die gemeinsamen Gebete.

Es kommt selten vor, dass mir die Worte fehlen. Worte finden ist für mich so natürlich wie das Atmen. Bis es das plötzlich nicht mehr ist. Bis mir mit einem Mal die Worte fehlen.

Der Gewaltausbruch in Israel und Palästina ist einer dieser Augenblicke. Der schreckliche Überfall der Hamas, die Geiseln, die Toten, die darauf folgenden Vergeltungsschläge. So viel Gewalt, so viel Blut, so viel Tod. Und mir fehlen einfach die Worte. Was soll ich angesichts so viel Leid noch sagen? Wie kann ich Worte für etwas finden, das unaussprechlich ist?

„Jesus weinte“[1]. Das ist der kürzeste Vers der Bibel.[2] Jesus steht am Grab seines Freundes Lazarus, der bereits einige Tage tot ist. Er sieht, wie seine engen Freunde zutiefst betroffen und erschüttert sind. Er sieht, wie die Angehörigen des Verstorbenen laut klagen und ihren Sohn, Bruder, Schwager oder Onkel beweinen, als ihm selbst die Tränen in die Augen steigen. Ihm, der die Schwester des Verstorbenen noch vor wenigen Augenblicken über seine Macht über den Tod und die Auferstehung belehrt hat, fehlen plötzlich die Worte.

„Seht, wie lieb er ihn gehabt hat!“, sagen die Umstehenden. Es lag nahe, dass auch Jesus der Tod seines Freundes nahe ging. Und sie hatten mit dieser Annahme zugleich Recht und Unrecht. Denn wenige Augenblicke später wird Jesus seine Macht über den Tod offenbaren und Lazarus befehlen, aus dem Grab zurückzukehren. Und wenige Augenblicke später wird Lazarus, der seit vier Tagen tot war, lebendig und kehr aus der Felsengruft, in der er lag, zurück.

Warum weint Jesus, wenn er Lazarus wenig später auferwecken wird? Er weint nicht nur über diesen Tod, sondern über jeden Tod. Er weint über jeden Menschen, der gewaltsam ums Leben kommt. Der von Krankheit aus dem Leben gerissen wird. Der einsam und allein aus dem Leben scheidet. Jesus weint über jede Ehe und Beziehung, die in die Brüche geht. Über jeden Menschen, der betrogen und hintergangen wird. Über jedes Kind, das in der Schule ausgelacht wird. Über jeden, der vor dem Krieg fliehen muss. Anders gesagt: Er weint über alles, was zerbrochen ist, als sich der Mensch von Gott losgesagt hat. Er weint über alles Leid, was dir und was mir widerfährt.

Ich will einen Gott, der weint! Dem der Schmutz und Dreck dieser Welt nicht gleichgültig ist. Der sich selbst dreckig und schmutzig macht, um bei mir zu sein. Und der den Dreck und Schmutz dieser Welt mit seinen Tränen benetzt. Der mit seinen Tränen mehr ausdrückt, als es zehntausend weise Worte tun könnten.

Es gibt kaum etwas, das mir so Trost gibt, wie die Tränen Jesu. Dass er mit mir weint, wenn ich vor Schmerz nicht mehr ein und aus weiß. Und dass er für mich weint, wenn ich schon lange nicht mehr weinen kann.

Es gibt eine zweite Art von Erfahrung, die mir die Sprache verschlägt. Es ist die Erfahrung eines hellen Sternenhimmels in einer mondlosen, klaren Nacht. Oder der Blick von einem hohen Felsen ins Tal, über das sich ein sanfter Sonnenuntergang senkt. Es ist die Erfahrung, zugleich unendlich klein und trotzdem unendlich wertgeschätzt zu sein.

Die Bibel verwendet oft das Wort Ehrfurcht oder Gottesfurcht. Es ist ein Begriff, mit dem wir oft große Mühe haben. Er erweckt das Bild von einem zornigen Gott, der von uns verlangt, mit gebücktem Haupt durchs Leben zu gehen und ja nicht aufzusehen, um ihn nicht aus Versehen zu verärgern oder zu beleidigen. Wir lesen Fürchte Gott und halte seine Gebote und verstehen: Nimm dich in Acht, dass du Gott nicht quer kommst, sonst wirst du was erleben! Oder, wie es in manchem Elternhaus zu hören war: Warte, bis Papa nach Hause kommt.

Es ist richtig, dass uns diese Vorstellung abschreckt. Ein Gott, der uns zugleich Furcht und Liebe abverlangt, wirkt geradezu sadistisch, tyrannisch. Es passt nicht zu jemandem, der sich selbst barmherzig und gnädig, langmütig und von großer Gnade und Treue[3] nennt.

Was ist Ehrfurcht dann? Manchmal versuchen wir, Ehrfurcht mit Respekt zu ersetzen. Nimm Gott ernst und befolge seine Gebote formuliert eine Bibelübersetzung. Doch mir greift das zu kurz. Denn hinter Respekt kann sich auch Gleichgültigkeit verbergen. Ich kann einen Menschen respektieren und mich zugleich von ihm fern halten.

Ich glaube, Ehrfurcht ist, wenn es mir die Sprache verschlägt. Wenn Gott mir die Sprache verschlägt.

Der Theologe Rudolf Otto nannte es das Mysterium tremendum et fascinans[4]: das zugleich überwältigend Erschreckende und überwältigend Schöne. Es ist zugleich der Schrecken, die Gewalt eines Orkans und die reine, erfüllte Schönheit des Schlussklangs einer Symphonie. Es ist das, wofür es keine Worte gibt.

Das Leben hat ein Ziel: Gottes ungetrübter Schönheit in ihrer ganzen Strahlkraft gegenüber zu stehen. Dem zu begegnen, der alle Worte übersteigt, vor dessen Angesicht alle unsere Beschreibungen, Erklärungen und Theorien wie das wilde Gekritzel eines Kindes gelten müssen. Alle Worte, die wir bis dahin machen, werden unvollständig bleiben. Sie können andeuten, eine Richtung weisen, aber nicht erfassen, und schon gar nicht erklären. Sie werden immer vor dem Schrecken und der Schönheit, die uns sucht, verblassen.

Das Erhabene ist etwas, das wir zwar sehen, aber nicht imstande sind mitzuteilen. Es ist der schweigende Hinweis der Dinge auf eine Bedeutung, die größer ist als sie selbst. Es ist das, wofür alle Dinge letztlich einstehen, »das unaufhebbare Schweigen der Welt, das immun ist gegen Neugier und Wißbegierde wie fernes Laubwerk im Dämmer«. Es ist das, was unsere Worte, unsere Formen, unsere Kategorien niemals erfassen können.

— Abraham Joshua Heschel: Gott sucht den Menschen[5]

Egal, wie viele Worte wir machen, das meiste, nein, das Wichtigste wird immer unausgesprochen bleiben. Deshalb ist auch Stille nicht etwa das Versagen des menschlichen Verstandes. Im Gegenteil: Stille ist die einzig angemessene Reaktion, wenn wir dem Unaussprechlichen begegnen.

Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.

— Ludwig Wittgenstein: Traktatus Logico-philosophicus

Der HERR aber ist im Tempel seiner Heiligkeit. Stille vor ihm, ganze Erde!

— Habakuk 2:20


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  1. Johannes 11:35 ↩︎

  2. Okay, das ist nur halb wahr. Es stimmt in der Zürcher Bibel und in vielen englischen Übersetzungen. Im griechischen Urtext geht der Preis an Lukas 20:30, im Hebräischen wären das Genesis 26:6 oder 1. Chronik 1:25. Und letztlich ist die Einteilung der Bibeltexte in Verse erst im Mittelalter entstanden und somit nicht im Urtext vorhanden. ↩︎

  3. Exodus 34:6 ↩︎

  4. Otto, Rudolf: Das Heilige. 1917. ↩︎

  5. Heschel, Abraham Joshua: Gott sucht den Menschen: Eine Philosophie des Judentums. Freuburg i.B.: 1980. S. 32 ↩︎