Menschsein, analog

Menschsein, analog

Ist dieser Artikel echt? Ist irgendwas echt, das ich nicht selbst geschrieben habe? Ist das Internet nur noch eine Simulation, in der Künstliche Intelligenz den Menschen ins Abseits gedrängt hat? Und was hat das mit dem Glauben, mit Gott und mit Gemeinde zu tun?

Seit Dezember 2022 ist die Welt nicht mehr, wie sie mal war. Seit ChatGPT für die breite Öffentlichkeit verfügbar gemacht wurde, ringen Schulen und Universitäten damit, einer Flut von KI-generierten Plagiaten Herr zu werden. Arbeitnehmer, vor allem in der kreativen Branche, ringen um ihre Zukunft und Relevanz angesichts von Computerprogrammen, die Bilder, Grafiken, Illustrationen, Geschichten, Berichte und Aufsätze auf Knopfdruck erzeugen können. Schauspieler streiken, weil ihre Gesichter an KI-Modelle verfüttert werden sollen, die das gescannte Gesicht auf jedes beliebige Bild projizieren können. Das Internet wird von einer Welle von KI-generierten Inhalten von meist mittelmäßiger Qualität und zweifelhaftem Wahrheitsgehalt regelrecht überrollt. Man kann niemandem mehr glauben; jeder Mensch, von dem ein paar gute Sprach- oder Bildaufnahmen existieren, kann von einer KI so glaubhaft imitiert werden, dass nicht mal mehr ein Video oder eine Sprachnachricht als vertrauenswürdig gelten kann.

In alledem flammt eine alte Debatte auf: Was hebt den Menschen von der Maschine ab? Die Debatte an sich ist nicht neu. Bereits zur Zeit der industriellen Revolution (im 19. Jahrhundert) gab es sogenannte Maschinenstürmer, die als Zeichen gegen Industrialisierung und damit einhergehenden Arbeits- und Statusverlust der Handwerker und Facharbeiter Maschinen und Fabriken zerstörten. Als Antwort auf die Ausbeutung der Arbeiter durch Großindustrielle entwickelten Karl Marx und Friedrich Engels den Kommunismus. Und auch bedeutende Werke der europäischen Literatur wie Frankenstein von Mary Shelley und Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann setzen sich mit dem technologischen Fortschritt auseinander, durch die ein „künstlicher Mensch“ geschaffen werden kann – mit Konsequenzen, die wir nur als Horror bezeichnen können.

Lange war die Antwort, dass der Verstand den Menschen von der Maschine abhebt. Maschinen können Stoffe effizienter weben, Felder schneller pflügen oder ernten, Schiffe schneller antreiben, als Menschen es je konnten. Aber das Denken war allein dem Menschen vorbehalten. Die Entwicklung des Computers in der Nachkriegszeit hat auch dieses Alleinstellungsmerkmal des Menschen infrage gestellt. Er entstand als Rechenmaschine, die abertausende Rechner (früher eine Berufsbezeichnung) ersetzt hat. Es schien, als würde dem Menschen nur noch die Sprache bleiben; Maschinen können rechnen, aber Texte weder verstehen noch glaubhaft erzeugen. Doch auch damit ist es jetzt aus.

Und nun? Was bleibt dem Menschen noch übrig? Menschen können längere Texte im Zusammenhang verstehen als Maschinen. Menschen können Projekte planen und auf unvorhergesehene Änderungen reagieren. Menschen können Emotionen und zwischenmenschliche Beziehungen verstehen. Doch es scheint mir, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Maschine auch hierin aufgeholt hat. Heißt das, dass der Mensch erledigt ist? Dass wir bald Maschinenrechte in unser Grundgesetz aufnehmen müssen? Dass es bald irrelevant sein wird, ob am anderen Ende der Leitung (oder des Chats) noch ein Mensch sitzt?

Mich fasziniert, wie verkopft wir an diese Fragen rangehen. Wir suchen nach dem menschlichen Alleinstellungsmerkmal in unserem Intellekt, als wäre der Mensch vor allem ein Gehirn mit etwas Zubehör. Dem ist nicht so. Was den Menschen von der Maschine unterscheidet, ist sein Körper, nicht sein Kopf. Ja, unser Intellekt ist ein wesentlicher Teil von uns, aber wir sind so viel mehr als unser Denken. Maschinen können nicht essen. Sie können nicht schlafen, nicht umarmen oder weinen. Sie können nicht lieben oder Kinder zur Welt bringen. Sie können nicht sterben.

Auch der christliche Glaube ist so viel mehr als ein intellektuelles System oder eine Sammlung abstrakter Wahrheiten. Nein, Glaube ist etwas zutiefst Körperliches.

Gott kam nicht als PDF-Datei auf die Erde, auch nicht als Buch, sondern als berührbarer Mensch mit Knochen, Sehnen und Muskeln. Und obwohl er die Macht hatte, Menschen auch aus der Ferne zu helfen, hat er es vorgezogen, Menschen zu berühren, ihnen die Hände aufzulegen oder ihnen sogar (auch wenn es uns vielleicht ekelt) Spucke in die Augen zu reiben.

Und da kam ein Aussätziger auf ihn zu, warf sich vor ihm nieder und sagte: Herr, wenn du willst, kannst du mich rein machen! Und er streckte die Hand aus, berührte ihn und sprach: Ich will es, sei rein! Und auf der Stelle wurde er von seinem Aussatz geheilt.

— Matthäus 8:2-3

Und als Jesus in das Haus des Petrus kam, sah er, dass dessen Schwiegermutter im Fieber lag. Und er nahm ihre Hand, und das Fieber wich von ihr.

— Matthäus 8:14

Als er ins Haus hineinging, traten die Blinden auf ihn zu, und Jesus sagt zu ihnen: Glaubt ihr, dass ich dies tun kann? Sie sagen zu ihm: Ja, Herr. Da berührte er ihre Augen und sprach: Euch geschehe, wie ihr geglaubt habt.

— Matthäus 9:28-29

Jesus sieht und heilt den ganzen Menschen. Er sagt Sei geheilt und Deine Sünden sind dir vergeben nahezu im gleichen Atemzug.

Aber damit hört es nicht auf. Nicht nur das Vorbild Jesu ist von Körperlichkeit geprägt, auch der Glaube lässt sich nur als ganzer Mensch mit Kopf und Körper leben.

One of the first things that should strike us about Christian worship is how earthy, material, and mundane it is. To engage in worship requires a body—with lungs to sing, knees to kneel, legs to stand, arms to raise, eyes to weep, noses to smell, tongues to taste, ears to hear, hands to hold and raise.
Eines der ersten Dinge, die uns am christlichen Gottesdienst auffallen sollten, ist, wie irdisch, materiell und alltäglich er ist. Um Gottesdienst zu feiern, braucht man einen Körper – Lungen zum Singen, Knie zum Knien, Beine zum Stehen, Arme zum Heben, Augen zum Weinen, Nasen zum Riechen, Zungen zum Schmecken, Ohren zum Hören, Hände zum Halten und Heben.

— James K.A. Smith: Desiring the Kingdom

Wie körperlich der christliche Glaube ist, zeigt sich daran, dass zwei der wesentlichsten Elemente des Glaubens unumgänglich körperlich sind: Taufe und Abendmahl.

Die Taufe ist mehr als ein symbolischer Akt. Das Untertauchen im Wasser ist nicht nur eine nette Veranschaulichung, sondern eine Vergegenwärtigung, ein Gegenwärtigmachen des Todes und der Auferstehung Jesu:

Mit ihm seid ihr begraben worden in der Taufe, und mit ihm seid ihr auch mitauferweckt worden durch den Glauben an die Kraft Gottes, der ihn von den Toten auferweckt hat.

— Kolosser 2:12

Wir können nicht rein intellektuell getauft werden. Der ganze Mensch, Körper und Geist, muss untertauchen, damit auch der ganze Mensch, Körper und Geist, Anteil am Leben der Ewigkeit hat.

Nicht anders ist es mit dem Abendmahl. Es ist im Kern eine Tischgemeinschaft mit Gott als Gastgeber. Es ist nicht bloß ein Gedenken, eine intellektuelle Übung, sondern die wahrhaftige Gemeinschaft mit dem Auferstandenen:

Der Kelch des Segens, den wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi? Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi?

— 1. Korinther 10:16

Das Abendmahl erfordert unseren Mund und unsere Hände ebenso wie unser Herz. Es benötigt unsere Zunge und Geschmacksknospen ebenso wie unseren Glauben. Und es braucht Landwirte, Müller, Bäcker und Winzermeister; Natur ebenso wie Kultur (vom lateinischen cultūra, Pflege/Bearbeitung des Ackers/Gartens). Kurz gesagt: den ganzen Menschen.

Noch etwas fällt beim Betrachten der Taufe und des Abendmahls auf: Sie können nicht in Isolation ausgeübt werden. Ich kann mich selbst nicht taufen und mir auch nicht selbst das Abendmahl reichen. Ich brauche dafür andere Christen ebenso wie sie mich brauchen. Gott hat keine Einzelkinder.

Wir als Glaubende sind nicht nur Gottes Söhne und Töchter, sondern bilden gemeinsam Gottes Familie. Und diese Gemeinschaft der Gotteskinder ist kein Extra des Glaubens, sondern gehört zum Kern:

Wer seine Geschwister liebt, bleibt im Licht, und in ihm ist nichts, was anstössig wäre.

— 1. Johannes 2:10

Wir wissen, dass wir aus dem Tod ins Leben hinübergeschritten sind, denn wir lieben einander. Wer nicht liebt, bleibt im Tod.

— 1. Johannes  3:13

Gerade diese Gemeinschaft ist es, die uns aus unserer digitalen Isolation und Verkopftheit rausholen kann. Sie fordert unseren Kopf, unser Herz und unsere Hände. Sie ist greifbar, spürbar, erlebbar. Und sie ist – mit all ihren zahllosen Macken und Fehlern – der Ort, an dem uns der Auferstandene begegnen möchte, an dem er selbst greifbar, spürbar und erlebbar wird.

Die Zukunft ist ungewiss. Niemand kann mit Gewissheit sagen, in was für eine Welt die KI uns bringt. Doch was immer passiert: Wir müssen uns von der Maschine nicht fürchten. Das Wesentliche am Menschsein wird sie uns nicht nehmen können: Liebe, Gemeinschaft und die Verbundenheit mit dem Gott, der selbst berührbar geworden ist.