(Außer)gewöhnlich

(Außer)gewöhnlich

Neulich habe ich den Film Extrem laut & unglaublich nah geschaut. Darin geht es um Oskar, einen verhaltensauffälligen Jungen, der seinen Vater beim Terroranschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 verliert und mit der Verarbeitung dieses Verlusts kämpft.

Wenn die Sonne explodiert, würde man acht Minuten lang nichts davon merken, denn so lange dauert es, bis das Licht bei uns ankommt. Acht Minuten lang wäre die Welt noch hell und es würde noch warm sein. Ein Jahr war vergangen seit mein Vater gestorben war und ich spürte, dass meine acht Minuten mit ihm zu Ende gingen.

— Extrem laut und unglaublich nah von Jonathan Safran Foer[1]

Glaubt man den Filmkritiken, war der Film nicht besonders gut. Zu aufgesetzt und kitschig sei die Verarbeitung der Roman-Vorlage, zu sentimental die Umsetzung, meinen die Kritiker. Wie gut, dass ich kein Filmkritiker bin, denn mich hat der Film berührt, vor allem die Figur des Vaters.

Dabei ist Oskars Vater nicht besonders und auch nicht außergewöhnlich. Oskars Vater ist selbst ohne seinen eigenen Vater aufgewachsen, weil dieser die Familie noch während der Schwangerschaft verließ. Oskars Vater hatte immer davon geträumt, Wissenschaftler zu werden, hat diesen Traum aber aufgegeben, um um die Familie zu versorgen, indem er ein kleines Juweliergeschäft betreibt. Er ist ein Mensch, der nicht auffällt, nicht heraussticht. Ein Mensch, der durch und durch gewöhnlich ist.

Und dennoch hat mich etwas an dieser Figur fasziniert, das ich nicht ganz beschreiben kann. Vielleicht ist es die Aufmerksamkeit, die er seinem Sohn schenkt, wenn dieser in lange wissenschaftliche Erörterungen ausbricht. Vielleicht ist es seine Geduld, mit der er er Oskar im Büro des kleinen Juwelierateliers spielen lässt und seine unablässigen Fragen beantwortet. Oder seine ruhige, geheimnisvolle und dennoch herzliche Art, mit der er seinen Sohn zu Erkundungsexpeditionen in der Großstadt losschickt. Was immer es ist: Mag Oskars Vater auch nicht außergewöhnlich sein, ist er doch für Oskar alles andere als unbedeutend.

Wir sind auf eine eigenartige Art geradezu besessen vom Außergewöhnlichen, Besonderen, Aufregenden und Sensationellen. Wir wollen Profis, Experten, Überflieger, Helden sein.

Diese Neigung sehe ich nirgends deutlicher als im Marvel Cinematic Universe, dem zweifelsohne erfolgreichsten Franchise der Film-Geschichte. In einem Marvel-Film gibt es in der Regel zwei Kategorien von Menschen (oder anderen Wesen): die Masse auf der einen Seite, die Superhelden oder Superschurken auf der anderen. Die Masse ist dazu da, um von den Helden gerettet zu werden, aber das einzelne Schicksal eines gewöhnlichen Menschen zählt nicht besonders viel.

Nachdem Thanos mit seinem Fingerschippen die Hälfte allen Lebens auslöscht, zeigt der Film Avengers: Endgame die tragischen Auswirkungen anhand der Selbsthilfegruppe, die Steve Rogers a.k.a Captain America ins Leben gerufen hat. Er leitet eine kleine Runde von Männer und Frauen, die er bei der Verarbeitung der neuen Lebenswirklichkeit unterstützt. Zu Beginn der Szene erzählt ein Mann von seinem ersten Date seit fünf Jahren und die Trauer, die ihn verfolgt. Steve Rogers hat ein paar ermutigende Worte für ihn und ermutigt auch die anderen, das Leben trotz allen Schmerzes weiterzuleben. Doch keine drei Minuten nach Beginn dieser Szene ist es mit der Sentimentalität vorbei und die Action geht los als Scott Lang als Ant Man aus der Quanten-Welt zurückkehrt. Die Botschaft ist klar: die Masse möchte gerettet werden, Zeit für die Superhelden! Alle Blicke sind auf Iron Man und co. gerichtet, nicht auf seine Putzkraft oder seinen Steuerberater.

Unter Christen haben wir unsere eigenen Variationen dieses Phänomens. Natürlich vergleichen wir uns nicht mit Iron Man oder Captain America. Aber wir wollen „radikal“ Jesus nachfolgen, Außergewöhnliches für Gott tun, Großes bewegen und die Welt verändern. Wir sehnen uns nach einem geistlichen Aufbruch in unserem Land. Wir besuchen Konferenzen, die uns den lang ersehnten Durchbruch versprechen und uns dazu befähigen, unser Umfeld auf den Kopf zu stellen. Wir wollen Helden sein, nicht gewöhnlichen Christen. Jeder will eine Revolution, aber niemand will den Abwasch machen.

Als Jesus sich sein Team von Superhelden für seine drei Jahre öffentlichen Wirkens in Galiläa und Judäa zusammenstellt, fällt er einige Entscheidungen, die auf den ersten Blick äußerst fragwürdig scheinen. Es fängt damit an, dass er seine Suche nach Mitstreitern am See Genezareth beginnt. Hätte er was von sich gehalten, dann hätte er seine ersten Schüler in Jerusalem, der Hauptstadt und dem Mittelpunkt der jüdischen Welt gesucht. Doch er beginnt in Galiläa, einer Provinz, deren Name Programm war: Provinz der Heiden. Unter den Juden in Jerusalem galt Galiläa als religiöse und kulturelle Grauzone, nicht zuletzt, weil hier der Einfluss der römisch-griechischen Kultur mindestens genauso stark war wie die jüdische Tradition.

Doch damit nicht genug. Die ersten Schüler, die Jesus beruft, sind weder Schriftgelehrte noch anderweitig gebildete Leute. Seine ersten Jünger sind Fischer, von Wind und Wetter abgehärtete Männer, die einen großen Teil des Tages (oder der Nacht) in engen, stinkigen Fischerbooten verbrachten. Sicher geschickte Handwerker, aber keine Akademiker. Dazu gesellte sich Matthäus, ein Zolleinnehmer, intellektuell wahrscheinlich etwas gebildeter, aber vom gesellschaftlichen Ansehen her in der untersten Schublade. Von den anderen Jüngern ist nicht viel über ihren Berufsalltag vor der Berufung durch Jesus bekannt. Doch nach der Kreuzigung Jesu ziehen einige von ihnen nach Galiläa zurück und als Petrus entschließt, wieder zu fischen, schließen sich ihm sogleich sechs seiner Freunde an. Sie schienen sein Handwerk zumindest in groben Zügen zu kennen. Von einer intellektuellen Elite kann hier keine Rede sein.

Und nicht nur das: Jesus trifft eine dritte Entscheidung, die wie eine große, gar gravierende Fehlkalkulation wirkt: Fast die gesamte Zeit seines öffentlichen Dienstes bringt er damit zu, durch die Provinz von Judäa und Galiläa zu ziehen. Selbst in Jerusalem, der Hauptstadt Judäas, lässt er sich nur zu den hohen jüdischen Festen blicken. Den Rest seiner Zeit verbringt er damit, von Dorf zu Dorf, von Siedlung zu Siedlung zu wandern. Er hätte nach Alexandria ziehen können, wo sich die klugen Köpfe der damaligen Zeit um die legendäre Bibliothek geschart hatten, um das gesamte Wissen der Menschheit zusammenzutragen. Sicher hätte er es auch nach Athen geschafft, wo sich die philosophische Elite versammelte, um über neue Gedanken, Ideen und Religionen zu diskutieren. Doch wenn er ganz groß rauskommen wollte, hätte er nach Rom ziehen sollen, dem Zentrum des Imperiums. Er hätte Zugang zum Hof des Kaisers suchen können, um von dort aus die Welt zu verändern.

Nichts dergleichen findet sich in den Evangelien. Nein, Jesus zieht durch Galiläa und Judäa und verbringt außerdem viel Zeit am See Genezareth und später in Bethanien, einem kleinen Dorf nahe Jerusalem, dessen Name schon alles aussagt: Bethanien heißt Haus der Armen. Klar, dass er damit in den griechischen und römischen Chroniken seiner Zeit nur eine Randnotiz blieb.

Mit unseren Maßstäben gemessen ist der öffentliche Dienst Jesu gelinde gesagt ein Flop. Ja, Jesus hat viel gepredigt, hat Kranke geheilt, Tote auferweckt und den Armen und Ausgestoßenen Hoffnung verkündet. Doch unterm Strich schafft es Jesus nicht, damit eine Spur in den Geschichtsbüchern seiner Zeit zu hinterlassen, geschweige denn außerhalb der Grenzen Judäas und Galiläas bekannt zu werden.

Und dennoch: Dieser Mann hat die Welt verändert, wie niemand anderes. Sein Name ist in der ganzen Welt bekannt und wird auch heute noch zu denen gebracht, die ihn noch nicht gehört haben. Zahllose Menschen bekennen sich zu ihm, versuchen ein Leben nach seinen Maßstäben zu führen und sind fest davon überzeugt, ihn persönlich zu kennen. Vielleicht ist also etwas mit unseren Maßstäben nicht in Ordnung.

Warum haben wir solche Angst davor, unauffällig und gewöhnlich zu sein? Warum streben wir so sehr nach Anerkennung und Bekanntheit, anstatt uns damit zu begnügen, in den Augen der Welt unbedeutend, aber dafür in Gottes Augen anerkannt zu sein? Für mich liegt ein Teil der Antwort darin, dass wir das Leben Jesu vor seinem öffentlichen Auftreten nicht wirklich verstanden haben.

Auf den ersten Blick scheint Jesu Kindheit und Jugendzeit eine große Leerstelle in seinem Lebenslauf zu sein. Die Evangelien geben uns nur äußerst spärlich Auskunft über die Zeit zwischen Jesu Geburt und dem Beginn seines öffentlichen Wirkens. Das Wichtige, so kann man leicht schlussfolgern, an Jesu Leben war seine Geburt, sein öffentliches Wirken und seine Passion. Die Zeit zwischen den ersten beiden Punkten? Unwichtig, bedeutungslos.

Und Jesus nahm zu an Weisheit und Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.

— Lukas 2:52

In einem einzigen Satz beschreibt der Evangelist Lukas die Zeit des Heranwachsens Jesu. Aber dieser Satz gibt uns mehr zu denken, als wir auf den ersten Blick ahnen.

Beginnen wir damit, was Lukas nicht sagt. Jesus war weder ein Rebell noch ein in sich gekehrter Träumer. Uns sind keine Wunder aus dieser Zeit überliefert, er versucht auch nicht, die Welt auf den Kopf zu stellen. Er versucht nicht, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen oder hervorzustechen. Nein, er ist ein ganz normaler Junge in Galiläa. Er ist ein Lernender und ein Wachsender, der viele Fragen stellt, sodass er damit selbst im Tempel in Jerusalem Verwunderung hervorruft.

Als Sohn eines Zimmermanns wird Jesus wahrscheinlich als Teenager anfangen, seinen Ziehvater auf der täglichen Arbeit zu begleiten.[2] Er lernt die Partner und Kollegen seines Vaters kennen, vielleicht auch dessen Rivalen. Er lernt den Umgang mit Werkzeug, die Kniffe und Tricks, die einem Handwerker das Leben einfacher machen und wächst durch die harte körperliche Arbeit in der glühenden Sommerhitze zu einem kräftigen jungen Mann heran. Es ist gut vorstellbar, dass Jesus an Josefs Seite die tagtägliche Freude über einen neuen Auftrag oder die Enttäuschung, keine Arbeit gefunden zu haben, erlebt. Vielleicht kriegt er mit, wie Joseph von Steuereintreibern über den Tisch gezogen wird und spürt selbst die Ohnmacht angesichts der Willkür der römischen Besatzer.

Die Arbeit selbst wird viele Jahre möglicherweise ganz in der Nähe gelegen haben, denn nicht weit von Nazareth liegt die Stadt Sepphoris. Herodes Antipas, Fürst von Galiläa, baut die Stadt, die vor nicht langer Zeit von den Römern dem Erdboden gleich gemacht wurde, neu auf. Sie soll seine Hauptstadt werden, die Zierde von Galiläa und das Aushängeschild seiner Macht. Fähige Handwerker sind dort wahrscheinlich sehr gefragt.

Irgendwann verstirbt Joseph. Wir wissen fast nichts über die Umstände oder Hintergründe. Als Jesus zwölf Jahre alt ist, zieht die Familie wie so oft zum Passahfest nach Jerusalem, Joseph inklusive. Aber später, als Jesus nach seiner Taufe im Jordan seinen öffentlichen Dienst beginnt, wird Joseph nicht mehr erwähnt, obwohl er als Familienvater an vorderster Stelle stehen müsste. Mit dem Tod von Joseph wird sich auch das Leben des jungen Jesus verändert haben, der vielleicht schon ein junger Erwachsener war. Er wird nun Mitverantwortung für die Familie tragen, an seiner Arbeit hängt nun der Unterhalt seiner Mutter und Geschwister. Jesus wird möglicherweise selbst auf Arbeitssuche gehen, Aufträge annehmen und bearbeiten, Partnerschaften aufbauen, sich einen Ruf als Handwerker erarbeiten.

Was den Alltag neben der Arbeit geprägt haben wird, ist die Synagoge und der Tempel. Die Synagoge am Sabbat mit der Schriftlesung und dem anschließenden Gespräch über das Gehörte; der Tempel zu den Festzeiten: Passahfest, Erntedank, Laubhüttenfest. Wie schon als Kind reist Jesus zu diesen Festen regelmäßig nach Jerusalem, wo die Stadt vor Gästen aus aller Welt aus allen Nähten platzt. Mit Familie und Freunden wird er im Tempel Opfer darbringen und die Festmahle halten. In der versammelten Runde werden sie über die Bedeutung der Feste sprechen, über ihre Relevanz und Gottes Wirken heute, über ihre Hoffnungen auf Gottes Eingreifen in naher Zukunft.

All die Jahre ahnt niemand, dass Jesus viel mehr ist, als auf den ersten oder auch zweiten Blick scheint. Dass er eben nicht der freundliche Junge von Nebenan sondern ganz Mensch, aber zugleich auch ganz Gott ist. Seine Mutter ahnt, dass Jesus anders ist als alle anderen Menschen – sie hat nie aufgehört, über die Umstände seiner Geburt und die Prophezeiungen, die Jesus von Anfang an begleitet haben, nachzudenken. Aber auch sie wird nur vage ahnen können, was das alles genau zu bedeuten hat.

Warum tut Jesus all das? Warum macht er sich die ganze Mühe? Er, der Gottessohn ist allmächtig und durch nichts beschränkt. Er hätte direkt als Dreißigjähriger erscheinen können, ohne all die Jahre in einer relativ unbedeutenden Kleinstadt in Galiläa zuzubringen. Er hätte auch als Sohn einer reichen Familie aufwachsen können, wo Diener und Sklaven für jedes Bedürfnis sorgten, jeden Wunsch erfüllten und er den Luxus und die Gemütlichkeit hätte genießen können, die den meisten Menschen verwehrt blieb. Warum die dreißig Jahre vor seinem öffentlichen Auftreten, die so voll von Mühe, Last und Arbeit sind?

Die Antwort liegt darin, was Jesus in seiner Menschwerdung bewirkt. Wenn wir die Pause in den Evangelien zwischen Jesu Geburt und seiner Taufe überlesen, schließen wir schnell, dass seine Geburt einfach die mathematisch notwendige Voraussetzung war, damit Jesus am Kreuz sterben und uns von unserer Schuld retten kann. Doch die frühen Kirchenväter haben diese Pause nicht überlesen, sondern erkannt, dass in dieser Zeit etwas äußerst Wichtiges geschieht. Er verändert, was es heißt, Mensch zu sein.

Als der frühchristliche Theologe Irenäus von Lyon – ein Schüler von Polykarp von Smyrna, der wiederum ein direkter Schüler des Apostels Johannes war – im zweiten Jahrhundert sein Werk Gegen die Häresien verfasst, gibt es unter den Jesus-Nachfolgern hitzige Diskussionen darüber, worin genau die Not der Menschheit besteht und was für eine Lösung Jesus aufzeigt. Eine Gruppe, die heute als Gnostiker bekannt sind, vertrat die Auffassung, dass das Problem der Menschheit seine physikalische Körperlichkeit war und dass Jesus uns Menschen genau davon befreien wollte. Ja, Jesus war Mensch – aber nur scheinbar, behaupteten sie. Ja, er ist gestorben – aber es sah nur danach aus. Und so sollte auch die Menschheit werden: frei von der Tyrannei des Physischen, Körperlichen und Beschränkten.

Irenäus vertritt eine ganz andere Ansicht: Jesus will die körperliche, ertastbare Dimension des Menschseins nicht abschaffen oder auflösen, sondern heiligen und vollenden. Nicht der menschliche Körper mit seinen Grenzen war das Problem, sondern die Rebellion des Menschen gegen Gott, als er sich im Garten Eden von Gott losgesagt hat. Und in seiner Auflehnung ist das zerbrochen, wozu Gott den Menschen berufen hatte: Der Mensch sollte ein Ebenbild, ein Spiegel Gottes sein. Doch dieser Spiegel war nun in tausende kleine Splitter zersprungen. Der Mensch hatte sich von Gott losgesagt und dabei verloren, was es heißt, Mensch zu sein. Es bedarf also nicht jemanden, der uns von unserer körperlichen Beschränktheit erlöst, sondern jemanden, der die zersprungenen Einzelteile aufhebt und zu einem neuen Ganzen zusammenfügt.

Und hier liegt das Problem, das Irenäus mit den Gnostikern hat. Die Gnostiker sind der Auffassung, dass Jesus nur so getan hat, als wäre er Mensch gewesen. Nein!, widerspricht Irenäus. Wenn Jesus nicht Mensch geworden ist, wie auch wir Mensch sind, kann es für uns keine Rettung, keine Heilung geben. Weil wir Menschen das Ebenbild, zu dem Gott uns geschaffen hatte, zerbrochen hatten, musste es auch von einem Menschen wiederhergestellt werden. Weil wir Menschen aber dazu nicht in der Lage waren, uns an unseren eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen, musste dieser Mensch niemand anderes als Gott selbst sein.

Jesus, so argumentiert Irenäus, musste ganz Gott und ganz Mensch sein, um uns aus unserer Not zu helfen. Nur als Mensch konnte er die Berufung erfüllen, die Gott dem Menschen zu Beginn gegeben hatte. Und nur als Gott konnte er den Feind des Menschen, den Tod, ein für alle Mal überwinden und außer Gefecht setzen. Aber um alle Menschen von der Macht des Todes zu befreien, musste Jesus alle Lebensphasen durchlaufen:

Da er also als Lehrer auftrat, hatte er auch das Alter des Lehrers, indem er die menschliche Natur weder verschmähte, noch überholte, noch in sich das Gesetz des menschlichen Geschlechtes aufhob, sondern jedes Alter durch die Ähnlichkeit mit ihm heiligte. Ist er doch gekommen, um alle zu retten, alle, die durch ihn für Gott wiedergeboren werden, die Säuglinge und die Kleinen, die Kinder, die Jünglinge und die Greise. So durchlebte er jedes Lebensalter, wurde den Säuglingen zuliebe ein Säugling und heiligte die Säuglinge; wurde den Kindern zuliebe ein Kind und heiligte die, welche in diesem Alter stehen, indem er Ihnen das Vorbild der Frömmigkeit, der Gerechtigkeit und des Gehorsames gab; wurde den Jünglingen zuliebe ein Jüngling, wurde ihnen ein Vorbild und heiligte sie für den Herrn. So wurde er auch den Männern zuliebe ein Mann, um allen ein vollkommener Lehrer zu sein, nicht nur, indem er die Wahrheit vortrug, sondern auch dem Alter nach, indem er auch die Männer heiligte, indem er ihnen zum Vorbild wurde. Und schließlich schritt er auch zum Tode, damit er, der Erstgeborene aus den Toten, auch selbst in allem den Vorrang behaupte . Er, der Fürst des Lebens und der erste von allen, wollte auch allen voranleuchten.[3]

— Gegen die Häresien, 2. Buch, 22. Kapitel, 4. Absatz

Die Gnostiker zur Zeit von Irenäus hielten solche Gedanken wahrscheinlich für durch und durch lächerlich. Jesus kam, um den Menschen vom physischen, materiellen Leben zu befreien, nicht, um selbst so ein Leben zu führen oder es gar zu heiligen. Jesus kam, um einen verborgenen, außergewöhnlichen Weg zu zeigen: eine Geheimlehre, die zu einem außergewöhnlichen, durch und durch geistlichen und übernatürlichen Leben verhelfen würde. Dass Jesus dreißig Jahre mit einem gewöhnlichen, menschlichen Leben zubringt, als kleines Kind heranwächst, einen normalen Beruf ausübt und normale Freundschaften pflegt, das fanden sie nicht nur absurd, sondern geradezu abartig.

Auch heute sind uns solche Gedanken, wie sie die Gnostiker vor fast zweitausend Jahren gehabt haben, nicht allzu fern. Wir sehnen uns nach einem Gott, der uns von dem Trott des Alltäglichen befreit und herausreißt, der uns über die Mittelmäßigkeit der Masse hinaushebt und uns außergewöhnliche, unbeschreibliche Erfahrungen verleiht. Stattdessen haben wir einen Gott, der sich für unseren Abwasch nicht weniger interessiert als für unsere Anbetungszeiten, für unseren Friseurbesuch genauso wie für unsere emotionalen Höhenflüge.

Anders gesagt: Gott interessiert sich in unserem Leben für das, was wir als so lästig und nervig empfinden, genauso wie für die besonderen Augenblicke, die intensiven Begegnungen und die atemberaubenden Wunder. Der gleiche Gott, der uns immer wieder ins Staunen versetzt, unser Herz ergreift und unser Leben auf den Kopf stellt, ist auch am Montagmorgen bei uns, wenn uns der Stress der Arbeit überrollt und wir vor lauter Terminen nicht wissen, wann wir mal durchatmen, geschweige denn zur Ruhe kommen sollen.

Als Nicolas Herman im Jahr 1640, mitten im dreißigjährigen Krieg, nach Paris geht, um sich dem Klosterorden der unbeschuhten Karmeliten anzuschließen, möchte er weder berühmt, noch bekannt werden. Nach zwei Jahren schließt er sein Noviziat ab und erhält einen neuen Namen: er heißt fortan Bruder Lorenz von der Auferstehung. Als neuer Mönch wird er mit der Leitung der Küche beauftragt, die etwa einhundert Personen, die in seinem Kloster leben, versorgt. Seine Tage verbringt er in der Küche, bei Einkäufen im Umland von Paris, beim Zwiebelschälen und beim Pfannkuchenbacken. Ein Alltag wie Hunderte andere. Doch es gibt einen wesentlichen Unterschied: Ob er einkauft, kocht, backt, oder Gottesdienst feiert, versucht er überall, wo er ist, Gottes Gegenwart zu erspüren und sich seiner Anwesenheit bewusst zu machen.

Die Zeit des Wirkens ist [bei mir] nicht von der Zeit des Gebetes unterschieden, ich besitze Gott so ruhig in den unruhigen Geschäften meiner Küche, (wo zuweilen viele Personen unterschiedliche Dinge auf einmal von mir fordern) als wenn ich vor dem Altar auf den Knien liege.

— Bruder Lorenz von der Auferstehung[4]

Das Leben von Bruder Lorenz verläuft nicht leicht. Aufgrund einer Beinverletzung, die er sich als Soldat im dreißigjährigen Krieg zugezogen hat, muss er die Aufgabe der Küchenleitung nach einigen Jahren niederlegen und wird zum Schustern von Sandalen eingeteilt. In den nächsten Jahrzehnten baut seine Gesundheit allmählich ab, bis er im Jahr 1691 an einer Rippenfellentzündung stirbt. Es ist, so möchte man denken, ein unscheinbares, unauffälliges Leben. Sicher, er hatte eine besondere Lebenseinstellung und eine außergewöhnliche Gabe, Gottes Gegenwart zu jeder Tages- und Nachtzeit zu erkennen. Doch er schafft es nicht hoch hinaus, reist nicht als bekannter Prediger durchs Land, wird bei seinem Tod nicht von Tausenden betrauert.

Und dennoch dauert es nach seinem Tod nicht lange, bis Freunde und Gefährten anfangen, die Gespräche mit ihm niederzuschreiben und seine Briefe zu sammeln. Und sie stellen fest, dass Bruder Lorenz, ein Mann von einfacher Herkunft und von lebenslanger Unscheinbarkeit, mehr als viele Theologen und Gelehrte seiner Zeit das Wesentliche erkannt und ergriffen hat: dass Gott da ist, in den großen wie in den kleinen Augenblicken des Lebens, in den gewöhnlichen wie in den außergewöhnlichen Erlebnissen, auf den Bergen der Herrlichkeit ebenso wie im Tal des Alltags.

[Gott] fordert nichts Großes von uns, von Zeit zu Zeit einen Augenblick an ihn denken, ein kurzes Wort der Anbetung, eine Bitte um seine Gnade. Manchmal gilt es, dass Sie ihm Ihre Schmerzen zum Opfer darbringen, ein andermal, dass Sie ihm danken für die Gnaden, die er Ihnen erwiesen hat und Ihnen mitten in Ihren Mühsalen immer wieder erweist, und dass Sie sich so oft als möglich mit ihm trösten. Bei Ihren Mahlzeiten und bei Ihren Gesprächen sollten Sie bisweilen Ihr Herz zu ihm erheben. Selbst der kleinste Gedanke an ihn wird ihn erfreuen. Man braucht dazu ja auch gar nicht laut zu schreien; er ist uns näher, als wir meinen.

— Bruder Lorenz von der Auferstehung[5]


  1. Foer, Jonathan Safran: Extrem laut und unglaublich nah. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2011. ↩︎

  2. Die Gedanken hier sind angelehnt an Spieker, Markus: Jesus. Eine Weltgeschichte. Lüdenscheid: Fontis, 2020, vor allem Kapitel IV/10 und IV/11. ↩︎

  3. Irenäus hat nichts gegen Frauen, auch wenn er sie in diesem Auszug nicht direkt erwähnt. Im Gegenteil: So wie die Menschheit durch Adam und Eva dem Tod unterworfen wird, wird sie für Irenäus durch Jesus und Maria, seine Mutter, befreit. Aber das ist anderes Thema für ein anderes Mal. ↩︎

  4. Lentner, J.J. (Hrsg.): Der Wandel vor Gott, oder das Leben des Bruder Lorenz vor der Auferstehung. München, 1815. ↩︎

  5. Deichgräber, Reinhard (Hrsg.): All meine Gedanken sind bei dir: In Gottes Gegenwart leben. Schwarzenfeld: Neufeld Verlag, 2012. ↩︎