Lebendiges Wasser

Lebendiges Wasser

Was man hat schätzt man meist erst dann, wenn es einem fehlt. Viel mehr noch: Erst, wenn etwas plötzlich nicht mehr da ist, merkt man oft, dass man es überhaupt hatte.

Vor ein paar Monaten erreichte uns eine Meldung unseres Wasserversorgers, dass das Trinkwasser zur Zeit verunreinigt ist und daher jegliches Wasser, das man zum Trinken oder Kochen verwendet, abgekocht werden muss. Ich habe nie viel über Wasser nachgedacht, doch in den anderthalb Wochen, in denen wir das Trinkwasser nicht trinken durften, begleiteten mich die Gedanken an das Wasser jeden Tag. Mit einem Mal musste ich jedes Mal beim Aufdrehen des Wasserhahns daran denken, dieses Wasser nicht zu trinken – auch nicht aus Gewohnheit beim morgendlichen Zähneputzen, wenn ich mich sowieso noch mehr oder weniger im Halbschlaf befinde.

Der Mensch kommt ohne Vieles aus. Menschen können lange Zeit ohne Gemeinschaft überleben, lange ohne ein Dach über dem Kopf aushalten, in extremen Fällen auch einige Wochen oder gar mehrere Monate ohne Nahrung auskommen. Doch ohne Wasser hält es niemand länger als drei oder vier Tage aus, bis der Körper die allerletzten Reserven aufgebraucht hat.

Wir denken fast nie darüber nach, wo unser Wasser herkommt. Doch für die meisten Generationen vor uns war das anders.

Die Überreste der antiken Stadt Megiddo in Israel

Im letzten Sommer bin ich bei einer Studienreise nach Israel mitgefahren. Dort haben die Ausgrabungsstätten jahrhunderte- und jahrtausendealter Städte eine besondere Faszination auf mich ausgeübt. Orte wie Tel Megiddo, Tel Dan und Jerusalem. Unzählige Generationen haben an diesen Orten gelebt, gefeiert, getrauert, gesiegt, verloren und wiederaufgebaut. Es sind Orte von unzählbaren Hoffnungen und Verzweiflung, Schlachten und Schicksalen. Doch alle diese Orte hatten etwas gemeinsam, wie uns unser Tourguide erklärte. Alle diese Orte erfüllten vier Kriterien:

  1. Die Orte waren gut zu verteidigen (was meistens auf Hügeln oder Bergen gegeben war).
  2. Die Orte waren von fruchtbarem Land umgeben.
  3. Die Orte lagen in der Nähe von wichtigen Handelsstraßen.
  4. Und noch wichtiger als alles andere: Es gab Wasser in unmittelbarer Nähe.

Doch Wasser ist nicht gleich Wasser. Es ist eine Sache, eine Quelle oder einen Fluss mit trinkbarem Wasser zu haben. Doch wo es das nicht gibt, bleibt in den trockenen Regionen der Erde oft nichts anderes übrig, als eine Zisterne auszuheben, die sich ein paar Mal im Jahr mit Regenwasser füllt.

Denn eine doppelte Bosheit hat mein Volk begangen: Mich, die Quelle lebendigen Wassers, haben sie verlassen, um sich Zisternen auszuhauen, rissige Zisternen, die das Wasser nicht halten.

— Jeremia 2:1

Für unsere Ohren klingt der Begriff lebendiges Wasser nicht besonders vielsagend. Aber im Altertum nannte man Wasser aus Quellen und Flüssen lebendig. Der Gegensatz dazu war Wasser aus Zisternen und anderen Auffangbecken, das stand und sich nicht bewegte. Wer im Altertum eine Quelle lebendigen Wasser zurückließ, um sich eine Zisterne zu graben, die abgestandenes Regenwasser sammeln würde, musste notwendigerweise ein Wahnsinniger oder ein Idiot sein.

Der Fluss Dan im Norden Israels. Foto: Uzi Paz Pikiwiki Israel, CC BY 2.5 https://creativecommons.org/licenses/by/2.5, via Wikimedia Commons

Was ist das lebendige Wasser, das Gott uns geben will? Es ist das, wonach wir im Leben suchen: Halt, Sicherheit, Annahme, Trost, Hoffnung, Rat, Weisung, Führung. Doch wie oft ist doch Gott die letzte Anlaufstelle für diese Dinge, nicht die erste? Es ist, als würde uns etwas davon abhalten wollen, uns bei diesen Themen an Gott zu wenden. Vielleicht ist es unser Stolz, dass wir mit unseren Nöten doch lieber alleine zurechtkommen wollen. Oder vielleicht meinen wir, Gott würde sich nicht für uns und unsere Bedürfnisse interessieren oder hätte schlechte Absichten mit uns.

Dabei ist ja gerade dies das Absurde an der Sache: Wir, die wir Jesus nachfolgen, dürften es doch eigentlich besser wissen. Wir haben es selbst erlebt: Jesus hat uns befreit, unser Leben neu gemacht, unsere Wunden verbunden und uns geheilt, uns wiederhergestellt und mit neuem Leben erfüllt. Wenn unser Herz schwer ist, wenn Sorgen uns überwältigen wollen und es das Leben nicht gut mit uns zu meinen scheint, sollten wir doch wissen, an wen wir uns wenden können. Doch so oft ist Gott die letzte Rettung und nicht die erste Anlaufstelle.

So viel anders als dem Volk Israel geht es uns darin also nicht. Auch sie wurden von Gott befreit, sie haben in zweimal vierzig Jahren in der Wüste seine Treue und Versorgung erlebt und wurden mit einem schönen und reichen Land beschenkt, für das sie nicht arbeiten mussten.

Wenn dich der HERR, dein Gott, in das Land bringt, das dir zu geben er deinen Vorfahren, Abraham, Isaak und Jakob, geschworen hat: große und schöne Städte, die du nicht gebaut hast, Häuser, voll von jeglichem Gut, die nicht du gefüllt hast, ausgehauene Zisternen, die nicht du ausgehauen hast, Weinberge und Olivengärten, die nicht du gepflanzt hast. Und wenn du davon isst und satt wirst, dann hüte dich, dass du nicht den HERRN vergisst, der dich herausgeführt hat aus dem Land Ägypten, aus einem Sklavenhaus.

— 3. Mose 6:10-12

Doch wie schnell hatte das Volk Israel vergessen, aus welchem Elend und welcher Not sie Gott gerettet hatte. Und wie schnell wurden sie neidisch auf die Nachbarvölker, ihre Götter, Feste, Bräuche, aber auch ihre Fehler, Sünden und Ungerechtigkeiten. Und genauso schnell hatten sie ihren Gott vergessen, der ihnen all das geschenkt hatte und der nur darauf wartete, dass sie sich endlich wieder an ihn wenden würden – und sei, dass sie aus der Not heraus um Hilfe baten.

War es unvermeidbar, dass Israel seinen Gott vergessen würde? Hatte das Volk überhaupt eine Chance, an Gott dranzubleiben, auch als sie ins gelobte Land eingezogen waren? Ich glaube schon. In den Geboten, die Gott seinem Volk durch Mose gab, waren nicht nur eine lange Reihe von kultischen Vorschriften und Vorgaben für das Lösen von verschiedenen Streitfällen, sondern auch eine ganze Reihe von Festen. Dazu gehörten Feste, die mit dem Erntezyklus zusammenhingen wie das Erntedankfest und Feste mit einer vor allem religiösen Dimension wie der Tag der Versöhnung. Aber ebenso gehörten Feste dazu, die das Volk jedes Jahr an seine Vergangenheit und Befreiung erinnern sollten: das Passahfest als Feier der Befreiung aus Ägypten und das Laubhüttenfest (auch Sukkot), das zur Erinnerung an die Wanderung durch die Wüste dienen sollte.

Wie regelmäßig diese Feste im alten Israel gefeiert wurden, wissen wir heute nicht genau. Doch als König Josias, der 16. König von Juda, im Tempel eine lange verlorene Kopie der Gesetze des Mose findet und das Land zu einer Rückkehr zu Gott führt, ordnet er an:

Der König gebot dem ganzen Volk: Feiert ein Passa für den HERRN, euren Gott, wie es geschrieben steht in diesem Buch des Bundes. Denn ein solches Passa war nicht mehr gefeiert worden seit den Tagen der Richter, die Israel Recht verschafft hatten, und auch nicht während der gesamten Zeit der Könige von Israel und der Könige von Juda. Erst im achtzehnten Jahr des Königs Josias wurde dem HERRN dieses Passa in Jerusalem gefeiert.

— 2. Könige 23:21-23

Gott hatte sich etwas dabei gedacht, als er diese Feste in Israel einsetzte. Er wusste, wie vergesslich wir Menschen sind und wie schnell es geht, dass wir das Gute, das wir empfangen haben, für selbstverständlich erachten und dann bald das Selbstverständliche vergessen haben. Wir brauchen die regelmäßigen Erinnerungen, die Fasten- und Festzeiten, die uns daran erinnern, was Gott für uns getan hat. Und wir tun gut daran, auch außerhalb solcher besonderen Ereignisse regelmäßig inne zu halten und Gott Danke zu sagen für alles, was er uns schenkt. Dabei können uns die Psalmen helfen:

Lobe den HERRN, meine Seele,
  und alles, was in mir ist, seinen heiligen Namen.

Lobe den HERRN, meine Seele,
  und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.

Der all deine Schuld vergibt
  und alle deine Krankheiten heilt,

der dein Leben aus der Grube erlöst,
  der dich krönt mit Gnade und Erbarmen,

der dich mit Gutem sättigt dein Leben lang.
  Dem Adler gleich erneuert sich deine Jugend.

Taten der Gerechtigkeit vollbringt der HERR
  und Recht für alle Unterdrückten.

Seine Wege hat er Mose kundgetan,
  den Israeliten seine Taten.

Barmherzig und gnädig ist der HERR,
  langmütig und reich an Güte.

Nicht für immer klagt er an,
  und nicht ewig verharrt er im Zorn.

Nicht nach unseren Sünden handelt er an uns,
  und er vergilt uns nicht nach unserer Schuld.

So hoch der Himmel über der Erde,
  so mächtig ist seine Gnade über denen, die ihn fürchten.

So fern der Aufgang ist vom Untergang,
  so fern lässt er unsere Verfehlungen von uns sein.

Wie ein Vater sich der Kinder erbarmt,
  so erbarmt der HERR sich derer, die ihn fürchten.

Denn er weiß, welch ein Gebilde wir sind,
  bedenkt, dass wir Staub sind.

Des Menschen Tage sind wie Gras,
  er blüht wie eine Blume des Feldes:

Wenn der Wind darüber fährt, ist er dahin,
  und seine Stätte weiß nicht mehr von ihm.

Aber die Gnade des HERRN währt von Ewigkeit zu Ewigkeit
  über denen, die ihn fürchten,
  und seine Gerechtigkeit über Kindeskindern,

über denen, die seinen Bund halten
  und seiner Gebote gedenken in der Tat.

Der HERR hat im Himmel seinen Thron errichtet,
  und sein Königtum herrscht über das All.

Lobt den HERRN, ihr seine Boten,
  ihr starken Helden, die ihr sein Wort vollbringt,
  gehorsam seinem gebietenden Wort.

Lobt den HERRN, all seine Heerscharen,
  ihr seine Diener, die ihr seinen Willen tut.

Lobt den HERRN, all seine Werke,
  an allen Orten seiner Herrschaft.

Lobe den HERRN, meine Seele.

— Psalm 103