Krieg und Gerechtigkeit

Krieg und Gerechtigkeit

Es ist einige Wochen her, dass ich etwas erlebt habe, was mir fast nie passiert: Ich hatte Alpträume, zwei Nächte hintereinander. Ich habe nicht einfach nur schlecht geschlafen oder etwas Komisches geträumt. Nein, zwei Nächte in Folge hatte ich Träume, in denen ich das intensive Gefühl hatte, dass etwas wahrhaft Böses geschieht. Zwei Tage später wachte ich auf und erfuhr, dass Russland in den frühen Morgenstunden mit einer groß angelegten Invasion der Ukraine begonnen hat.

Als ich von dem Beginn des Kriegs in der Ukraine erfuhr, war einer meiner ersten Gedanken „Jetzt also doch“. Die Bekräftigungen, die russischer Politiker und Diplomaten über viele Wochen wiederholt hatten, niemand würde einen Krieg mit der Ukraine planen, sind in wenigen Minuten zerschmettern worden und mit ihnen die Glaubwürdigkeit ebendieser Politiker. Jetzt herrscht Krieg in Europa. Ein Krieg, der Verwüstung und Leid hinterlässt und dessen langfristige Folgen wir uns noch nicht einmal im Ansatz ausmalen können.

„Ich habe ehrlich gesagt Angst“, meinte ein Bekannter, mit dem ich über den Krieg sprach. Was, wenn die Lage eskaliert? Was, wenn die russischen Drohungen wahrgemacht werden und der Krieg nicht an den ukrainischen Grenzen aufhört, sondern auf Polen und die baltischen Staaten übergreift? Was, wenn die russische Führung sich so in die Ecke gedrängt fühlt, dass sie zu unaussprechlichen Maßnahmen greift und Atomwaffen einsetzt? Was, wenn das alles am Ende zum dritten Weltkrieg führt?

Mir stellt sich aber noch eine andere Frage: Was, wenn Putin davonkommt? Wenn er – ob er nun mit seinen Vorhaben Erfolg hat oder nicht – nie zur Rechenschaft gezogen wird? Wenn die russischen Kriegsverbrechen zwar aufgedeckt und publik gemacht werden, aber ihre Urheber sich in ihre prunkvollen Paläste und dicke Yachten zurückziehen können, an welchen die westlichen Staaten nicht an sie herankommen, ohne ihre eigenen Regeln zu brechen?

Beide Fragen lassen sich auch anders ausdrücken: Was, wenn das Böse am Ende stärker ist?

Ein mächtiger Gott

Zwei Themen durchziehen die ganze Bibel, von vorne bis hinten. Erstens: Gott ist der allmächtige Schöpfer von allem, was existiert. Es gibt nichts, was ihm in seiner Vollmacht auch nur annähernd gleichen würde. Es gibt niemanden, der ihm seine Autorität auch im Ansatz streitig machen könnte. Zweitens: dieser allmächtige Gott sorgt sich in besonderer Weise um das Schicksal der Unterdrückten, Schwachen und Elenden.

Niemand ist so heilig wie der HERR, denn es gibt keinen außer dir, und kein Fels ist wie unser Gott.
1. Samuel 2:2
Denn der HERR, euer Gott, ist der Gott der Götter und der Herr der Herren, der große, starke und furchtbare Gott, der kein Ansehen der Person kennt und keine Bestechung annimmt, der der Waise und der Witwe Recht verschafft und den Fremden liebt, so dass er ihm Brot und Kleidung gibt.
Levitikus 10:17-18

Wir dürfen nicht unterschätzen, wie absurd und verrückt diese Behauptung in der Welt, in der die Bibel geschrieben wurde, klang. Es gab viele Götter, von denen jeder seinen eigenen Machtbereich hatte. Es gab Sturmgötter, Fruchtbarkeitsgötter, Kriegsgötter, die Götter der Unterwelt, die Götter der Weisheit und viele andere. Eins hatten sie aber alle gemeinsam: sie alle verkörperten auf die eine oder andere Weise Macht. Die gesamte antike Mythologie beschreibt die Welt als einen unendlichen und zumeist grausamen Machtkampf. In so einer Welt ist für einen Gott, der sich freiwillig um das Schicksal der Armen und Unterdrückten dieser Welt besorgt, kein anderer Platz als ganz hinten in der Rangliste der Mächtigen. Der Gott der Armen und Schwachen konnte nur selbst arm und schwach sein. Und wer will schon beim Verlierer-Gott Schutz suchen?

Die Geschichte des Volkes Israel, von der die Bibel erzählt, ist durch und durch von diesem Motiv durchtränkt. Als die Israeliten von den Ägyptern versklavt sind, hört Gott ihren Hilfeschrei und beauftragt Mose, sein Volk in die Freiheit zu führen. Als Mose und Aaron beim Pharao aufkreuzen und darum bitten, mit ihrem Volk in die Wüste gehen zu dürfen, um ihrem Gott Opfer zu bringen, wird der Pharao nicht schlecht gestaunt haben. Seine Sklaven wollen in der Wüste ihrem Sklaven-Gott Opfer bringen? Die haben wohl nicht mitbekommen, wer hier das Sagen hat! Die Antwort des Pharaos folgt prompt: Das Volk Israel bekommt fortan kein Material für ihre Bauarbeiten mehr geliefert und muss dennoch die gleiche Leistung liefern. Der Sklaven-Gott will mit dem Pharao Kräfte messen? Soll er es doch versuchen! Der Pharao selbst sah sich ja als ein Gott an. Soll der Götter-Kampf doch beginnen!

Der HERR sprach zu Mose: Nun sollst du sehen, was ich dem Pharao antun werde. Denn durch eine starke Hand gezwungen wird er das Volk Israel ziehen lassen, ja, durch eine starke Hand gezwungen wird er sie aus seinem Land hinausjagen.
Exodus 6:1

Die Geschichte von den zehn Plagen, die Gott als Antwort auf die Hartnäckigkeit des Pharaos über Ägypten schickt, ist weithin bekannt. Was jedoch den meisten von uns entgeht: Bei den zehn Plagen handelt es sich nicht bloß um Gottes Gericht über einen boshaften und brutalen politischen Machthaber. Nein, es ist ein Kampf der Götter – der Gott Israels gegen die Götter Ägyptens!

Ich werde aber in dieser Nacht durch das Land Ägypten schreiten und alle Erstgeburt im Land Ägypten erschlagen, Mensch und Vieh, und an allen Göttern Ägyptens werde ich Strafgerichte vollstrecken, ich, der HERR.
Exodus 12:1

Die erste Plage trifft den Nil, dessen Wasser durch Gottes Kraft zu Blut und damit ungenießbar wird. Der Nil war für die Ägypter eine Verkörperung des Gottes Hapi. In der zweiten Plage fielen Frösche über das gesamte Land und plagte Mensch und Tier, bis sie auf Gottes Geheiß hin einen Tag später alle wegstarben. Der Frosch war für die Ägypter das Symbol der Göttin Heket. So geht es weiter: in der dritten Plage wird der Staub der Erde zu einer riesigen Zahl von Mücken, was den Erdgott Geb betraf. Die vierte Plage besteht in einer Insektenplage, die das Land heimsuchte – der ägyptische Gott Chepre wurde in Ägypten mit einem Insektenkopf dargestellt. Eine Plage nach der anderen beweist, dass Stärke und Macht bei dem Gott Israels sind und die Götter Ägyptens nicht in der Lage sind, die Ägypter zu beschützen. Im großen Finale, der zehnten Plage, trifft es dann den Pharao selbst. In der ägyptischen Götterwelt galt der Pharao selbst als Verkörperung des Sonnengottes Re und wurde von den Ägyptern entsprechend verehrt. In der zehnten Plage stirbt dann der erstgeborene Sohn des Pharaos, der als Erbe die Thronfolge antreten und damit selbst als Gott verehrt werden sollte. Erst jetzt gibt sich der Pharao geschlagen und lässt das Volk Israel ziehen – bis er es sich doch anders überlegt und den gerade ausgezogenen Israeliten hinterherzieht und selbst im Schilfmeer, durch das Gott sein Volk führt, den Tod findet.

Gott hat gesiegt und seine Macht über die Götter Ägyptens vor aller Welt unter Beweis gestellt. Ja, dieser Gott, der sich für die Schwachen und Unterdrückten einsetzt ist der Mächtige, der Unbezwingbare, der Gott über allen anderen Göttern. Und dieses besondere Erbe sollte sich im Leben der Israeliten widerspiegeln:

Und denke daran, dass du Sklave gewesen bist im Land Ägypten und dass der HERR, dein Gott, dich von dort herausgeführt hat mit starker Hand und ausgestrecktem Arm. Darum hat dir der HERR, dein Gott, geboten, den Sabbattag zu halten.
Deuteronomium 5:15
Auch ihr sollt den Fremden lieben; denn ihr seid selbst Fremde gewesen im Land Ägypten.
Deuteronomium 10:19
Du sollst das Recht des Fremden und der Waise nicht beugen und das Kleid der Witwe nicht als Pfand nehmen, sondern du sollst daran denken, dass du Sklave gewesen bist in Ägypten und dass der HERR, dein Gott, dich von dort befreit hat. Darum gebiete ich dir, dass du so handelst.
Deuteronomium 24:17

Hinter diesen hohen Idealen blieben die Israeliten jedoch weit zurück. Anstatt der ganzen Welt zu zeigen, dass Gottes Herz für die Schwachen und Ausgestoßenen schlägt, fingen sie an, selbst die Unterdrückung auszuüben, der sie aus Ägypten entflohen waren. Es überrascht daher nicht, dass die Propheten, durch die Gott sein Volk zur Umkehr rufen wollte, nicht nur die Untreue des Volkes gegenüber Gott anklagten, sondern im gleichen Atemzug auch die Ungerechtigkeit gegen die Schwachen anprangerten:

Die Schwachen habt ihr nicht gestärkt, und was krank war, habt ihr nicht geheilt, und was gebrochen war, habt ihr nicht verbunden, und was versprengt war, habt ihr nicht zurückgeholt, und was verloren gegangen war, habt ihr nicht gesucht, und mit Macht habt ihr sie niedergetreten und mit Gewalt.
Hesekiel 34:4
Selbst das Maß des Bösen haben sie überschritten, das Recht haben sie nicht durchgesetzt, das Recht der Waisen, sie haben sie nicht zum Erfolg geführt, und den Rechtsanspruch der Armen haben sie nicht eingelöst.
Jeremia 5:27

Was hat das alles mit dem Krieg in der Ukraine zu tun? Es ist die Bekräftigung der Propheten Israels, dass sich Gottes Sorge um Gerechtigkeit und sein Mitgefühl für die Schwachen und Unterdrückten nicht allein auf das damalige Israel beschränkt, sondern zu allen Zeiten und an allen Orten gilt:

Und an jenem Tag fordert der HERR Rechenschaft […] von den Königen der Erde auf der Erde.
Jesaja 24:21
Dann werde ich die Bosheit heimsuchen am Erdkreis und an den Frevlern ihre Schuld. Und ich werde der Überheblichkeit der Vermessenen ein Ende setzen und den Hochmut der Tyrannen erniedrigen.
Jesaja 13:11

Ja, in der Ukraine geschieht unaussprechliches Unrecht und unglaubliches Leid. Aber selbst wenn diejenigen, die dieses Leid befohlen und diejenigen, die es verübt haben, unseren Gerichten und unserer Rechtsprechung entkommen, der Rechenschaft vor Gott entkommt niemand. Spätestens, wenn sie vor Gott stehen, wird er von ihnen Rechenschaft verlangen über jeden einzelnen Menschen, dem sie Leid zugefügt haben. Gott vergisst nicht, er übersieht nicht. Ja, er hat einen längeren Atem als wir und lässt manches zu, von dem wir nicht verstehen, warum Gott es nicht verhindert hat. Aber es gibt niemanden, der Leid über andere bringen kann und dabei seiner Verantwortung vor Gott entfliehen könnte.

Denn Gott rettet den Armen, der um Hilfe schreit, den Elenden, dem keiner hilft.
Er erbarmt sich des Schwachen und Armen, das Leben der Armen rettet er.
Aus Bedrückung und Gewalttat erlöst er ihr Leben, und kostbar ist ihr Blut in seinen Augen.
Psalm 72:11-14

Eine Mahnung

Doch das alles ist nicht nur eine Mahnung an die Anderen – sie gilt auch mir.

Wenn es nur so einfach wäre! – dass irgendwo böse Menschen mit böser Absicht böse Werke vollbringen und es nur darauf ankäme, sie unter den übrigen zu erkennen und zu vernichten. Aber der Strich, der das Gute vom Bösen trennt, durchkreuzt das Herz eines jeden Menschen.
In ‘Archipel Gulag’ von Alexander Solschenizyn

Es wäre falsch, wenn uns die Ungerechtigkeit, die in der Ukraine geschieht, kalt lassen würde. Doch darf es nicht dazu führen, dass ich so sehr mit dem Unrecht, das andere verursachen, beschäftigt bin, dass ich mich nicht mehr mit meinem eigenen Herzen beschäftige. Denn die Warnung, die Gott an die richtet, die sich an den Schwachen und Unterdrückten vergehen, gilt in gleicher Weise für mich. Es reicht nicht, das Unrecht anderer zu verurteilen, aber sich dabei nicht der Ungerechtigkeit in seinem eigenen Leben zu stellen. Denn die Wahrheit ist, dass Gottes Sorge um die Schwachen und Ausgestoßenen nicht kleiner ist, wenn ich Menschen in meinem Umfeld, die meine Hilfe brauchen, abweise, ihnen die kalte Schulter zuwende oder auch einfach schlecht über sie rede.

Ich sage euch aber: Über jedes unnütze Wort, das die Menschen reden, werden sie Rechenschaft ablegen müssen am Tag des Gerichts. Denn aufgrund deiner Worte wirst du freigesprochen werden, und aufgrund deiner Worte wirst du verurteilt werden.
Matthäus 12:36-37

Am Ende bleibt auch mir nichts anderes übrig, als meine eigene Schuld einzugestehen und mich zu dem zu flüchten, der die Schuld der ganzen Welt – auch die der Mörder und Kriegsverbrecher – auf seine eigenen Schultern genommen hat, um uns von der Macht der Sünde und des Todes zu befreien. Er, der durch den Tod gegangen und auferstanden ist und als Richter kommen wird, um alles Unrecht für immer zu beseitigen und alles neu, ganz und heil zu machen.