Schöne Narben

Schöne Narben

Leben hinterlässt Narben. Ich kann nicht zählen, wie oft ich mir als kleiner Junge beim Spielen und Toben Schürfwunden holte. Ob ich beim Fangenspielen gestolpert oder mit dem Fahrrad gestürzt bin: es kann kaum seltener als einmal pro Woche gewesen sein, dass ich mit einer solchen Trophäe Trost bei meinen Eltern suchte. Gott sei Dank verheilten die Narben fast alle so gut, sodass heute nur noch vier oder fünf davon zu sehen sind: Andenken an eine lebhafte Kindheit.

Doch neben diesen Narben gibt es auch solche, die nicht bei einem Sturz oder einem Stolpern entstanden: Narben am Herzen, seelische Verletzungen. Und anders als bei den Schrammen und Schürfwunden meiner Kindheit merke ich, dass ich diese Narben weiterhin an mir trage, auch wenn die Ereignisse dahinter zehn oder zwanzig Jahre zurückliegen. Es sind Erinnerungen an Schmerz, den ich vor vielen Jahren empfand; Echos von schweren Zeiten, die ich schon lange hinter mir gelassen habe.

Besonders in meinen späten Teenager-Jahren hat mich diese Frage verfolgt: Kann ich mit diesen Narben etwas anderes machen, als sie tief in meinem Herzen zu vergraben und zu hoffen, dass nie jemand den Finger in die Wunde legt? Ich hatte zuvor eine Beziehung, die zu Bruch ging und in meinem Herzen tiefe Wunden hinterließ. Durch Gottes Geduld und Gnade waren diese Wunden am verheilen, auch wenn der Schmerz noch nicht ganz verklungen war. In dieser Zeit mich lies diese Frage nicht los: Wie bewältige ich diese Vergangenheit, diesen Schmerz? Ich wusste, dass er in mir Narben hinterlassen würde. Doch war ich jetzt damit gestraft, die Erinnerung daran durch mein ganzes Leben mitzuschleppen? War es möglich, weiterzumachen, ohne von der Vergangenheit fortwährend erdrückt zu werden?

Schmerz, der eine Antwort verlangt

Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und nicht meinen Finger in das Mal der Nägel und meine Hand in seine Seite legen kann, werde ich nicht glauben.
– Johannes 20:25

Wenn wir an Thomas, den Jünger Jesu denken, fällt uns fast automatisch das Wort „Zweifler“ ein. So oft hört man diese zwei Worte zusammen. Thomas, der Zweifler. Als einer der zwölf engsten Jünger Jesu war er drei Jahre mit Jesus unterwegs. Er hat erlebt, wie Jesus Kranke geheilt und Armen Gottes frohe Botschaft gebracht hat. Er war dabei, als Blinde wieder sehend wurden, verkrüppelte Menschen sich aufrichteten und von der Dunkelheit geplagte Menschen zurück ins Licht kamen. Er hatte gehört, wie Jesus die Bergpredigt gehalten hat und hat die Brote, die Jesus bei der Speisung der 5000 vermehrt hatte, mit ausgeteilt. Doch all das nimmt ein plötzliches und dramatisches Ende, als er miterlebt, wie Jesus von den Tempelwachen zum Verhör und letztlich zur Kreuzigung abgeführt wird. Die Kreuzigung selbst bekommt er wahrscheinlich nicht mit. Es reicht aus, dass ihm davon ausführlich berichtet wird.

Doch wenige Tage später kommen die anderen Jünger zu ihm und erzählen, dass sie Jesus gesehen und mit ihm gesprochen haben! Thomas erwidert, dass er es erst glaubt, wenn er selbst Jesu Wunden und Narben sieht. Und wird wegen dieser Antwort von uns zum Zweifler abgestempelt. Doch je länger ich die Geschichte von Thomas auf mich wirken lasse, umso schwerer fällt es mir, in seiner Antwort Zweifel zu sehen. Stattdessen sehe ich die Reaktion eines verletzten, schmerzenden Herzens.

Warum fragt Thomas so ausdrücklich nach Jesu Wunden und Narben? Warum reicht es ihm nicht, Jesus zu begegnen, ihn zu sehen? Warum ist es ihm so wichtig, die Löcher in Jesu Hand und die Wunde in seiner Seite zu sehen?

Weil Schmerz nach einer Antwort verlangt. Thomas hatte sein ganzes Leben aufgegeben, um Jesus zu folgen. In den drei Jahren mit Jesus hatte er erkannt, dass Jesus nicht ein Prediger oder ein Heiler unter vielen ist. Nein! In Jesus sah er die Erfüllung von Gottes Rettungsplan. Thomas wusste, dass es hier die Weltgeschichte auf dem Spiel steht. Doch als Jesus am Kreuz hängt, lösen sich alle Hoffnungen, die Thomas hatte, in Luft auf. Alles, worauf er gebaut hatte, wurde davongeschwemmt wie eine Sandburg, wenn die Flut eintrifft. Jetzt steht er mit leeren Händen da und erkennt, dass er wohl einer Täuschung gefolgt ist.

Als nun die anderen Jünger ihm erzählen, dass sie Jesus begegnet sind, ist für Thomas sofort klar: Wenn Jesus lebt, aber keine Narben hat, dann war Jesu Leid und seine Auferstehung ein bloßer Zaubertrick. Dann hatte die Kreuzigung einen doppelten Boden und Jesus hat nicht wirklich gelitten. Und dann kann Jesus auch sein Leid, seine Enttäuschung, seinen Schmerz nicht verstehen. Und dann muss der Schmerz, den Thomas gerade durchgemacht hatte, letztlich eine Einbildung sein. Nein, er konnte nicht an einen Gott glauben, der keine Narben hat.

Am Ende scheint es für Thomas auf folgende Frage hinauszulaufen: Nimmt Gott sein Leid so ernst, dass er selbst Narben trägt? Gibt es ein Leben, das Zeugnis vom Leid gibt – ohne es zu beschönigen oder kleinzureden – aber dieses Leid dennoch überwunden hat? Gibt es eine Heilung, welche die Vergangenheit nicht auslöscht und trotzdem verwandelt?

Der Gott, der Narben hat

Leg deinen Finger hierher und schau meine Hände an, und streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite!
Johannes 20:27
Durch seine Wunden haben wir Heilung erfahren.
– Jesaja 53:5

Sieben Tage später begegnet Thomas der Antwort. Als die Jünger sich versammelt haben, ist plötzlich Jesus in ihrer Mitte. Und so kurz die Worte sind, die Jesus an Thomas richtet, so tief ihre Bedeutung: Jesus hat Narben! Er hat die Schmerzen der Kreuzigung, das Leid und den Tod getragen und nicht weggezaubert. Sein Tod am Kreuz hat Spuren an ihm hinterlassen, die er von nun an in alle Ewigkeit an sich tragen wird. Gott selbst hat Narben, die von dem Leid, das er getragen hat, erzählen. Und doch haben Leid und Tod nicht gesiegt! Denn durch die durchbohrten Hände und die durchstochene Seite strömt pulsierend die Wärme des ewigen Lebens.

Noch etwas Tieferes wird hier sichtbar: In Jesu Narben sind auch unsere Narben eingeschlossen. Als sich Jesus den Jüngern zeigt und Thomas dabei ist, spiegelt Jesu Antwort fast im Wortlaut wider, was Thomas eine Woche zuvor gesagt hatte: Leg deine Finger hierher, schau auf meine Hände, leg deine Hand in meine Seite. Oder anders gesagt: Ich kenne deinen Schmerz. Ich kenne dein Leid, deine Enttäuschung. Deine Wunden sind auch meine Wunden, der Schmerz deines Herzens die Narben an meinen Händen. Ja, auch deine Seele wurde von der Last des Todes entstellt, aber in meinen Händen pulsiert Leben, das den Tod überwunden hat.

Und noch etwas geschieht: In Jesu Wunden werden unsere Wunden verwandelt. Jesus selbst trägt die Zeichen des Leides und dennoch erzählen seine Narben von Hoffnung und Leben. Jesus hat das Leid, das er am Kreuz trug, nicht ungeschehen gemacht, aber dennoch ist auch dieses Leid jetzt zu einem Zeichen von Gottes alles überwindenden Liebe geworden. Und dasselbe gilt auch für mich: Jesus möchte auch meine Vergangenheit mit all ihren Schmerzen und Schwierigkeiten nicht auslöschen – er möchte sie verwandeln. Als Jesus am Kreuz hängt, scheint es, als wäre alle Hoffnung verloren und als hätte das Leben selbst kapituliert. Aber die Auferstehung zeigt, dass Jesu Leid am Kreuz kein Beweis seiner Ohnmacht sondern ein Zeichen seiner Liebe für dich und mich ist: Darin, dass er sich so mit unserem Schmerz identifiziert, dass er selbst unser Leid trägt.

Das gibt uns die Gewissheit, dass auch unsere Wunden und unsere Narben nicht für alle Zeit Geschichten von Schmerz und Leid erzählen müssen, sondern im Licht des Kreuzes zu Zeichen von Liebe und Heilung werden. Denn in Jesus hat das ewige Leben schon den Tod besiegt. Wer bei Jesus Zuflucht sucht, wird erleben, dass die Liebe, die durch den Tod gegangen ist, um uns nahe zu sein, unser ganzes Leben verwandeln wird. Mit allen Narben.

Die göttliche Natur kann die Vergangenheit verwandeln. Nichts hat noch seine wahre Gestalt.
– Du selbst bist die Antwort, C.S. Lewis

Viele der Gedanken in diesem Text wurden inspiriert von einer Predigt von Greg Thompson mit dem Titel „An answer for the doubter“. Wenn du mal Zeit dafür hast, schau sie dir an. Es lohnt sich!