In Schwachheit stark

In Schwachheit stark

Selten fühlt sich das Leben so zerbrechlich an, wie in den letzten Tagen. Die Corona-Fallzahlen schnellen in die Höhe, allen Maßnahmen und Aufforderungen, sich an die Anordnungen zu halten, zum Trotz. Ein neuer Lockdown wurde beschlossen. Auch nach den optimistischsten Schätzungen werden noch Monate vergehen, bis erste Impfungen durchgeführt werden können. Es fühlt sich an, als würden wir einen Kampf kämpfen, bei dem wir von vornherein zum Verlieren verurteilt sind.

Stark und zerbrechlich

Wie kaum etwas anderes erinnert das Corona-Virus uns an das Paradoxon, das wir Menschsein nennen: Der Mensch ist stark und zugleich zerbrechlich.

Der Mensch ist stark. Als Apex Predator haben wir uns den obersten Platz in der Nahrungspyramide erkämpft: Wir essen (fast) alles, sind aber selbst niemandes natürliche Beute. Wir haben das Angesicht der Erde geprägt und gestaltet wie sonst keine Spezies auf unserem Planeten. Wir haben das Meer bis zum tiefsten Punkt erkundet und zugleich Menschen ins Weltall geschickt. Wir haben Medizin entwickelt, um Krankheiten zu therapieren, die noch vor 100 Jahren aussichtslos waren. Und wir haben Waffen gebaut, welche die Menschheit und auch alles andere Leben auf der Erde in einem Bruchteil einer Sekunde auslöschen können.

Doch bei all seiner Kraft ist der Mensch auch ein sehr zerbrechliches Wesen. Wir kommen hilflos zur Welt und sind von der ersten Sekunde auf andere Menschen angewiesen. Die ersten Monate und Jahre sind das vor allem unsere Eltern, die uns versorgen, sich mit großer Aufopferung um unsere Grundbedürfnisse kümmern. Doch unsere Bedürfnisse sind nicht nur rein physisch – der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Schon bald brauchen wir neben Nahrung und Schlaf auch Gemeinschaft und Zuneigung. Wir brauchen Wertschätzung, Anerkennung, sehen uns danach, von anderen angenommen zu werden. Wenn diese Bedürfnisse ungestillt bleiben, wird es tiefe Wunden in Herzen und Seelen hinterlassen.

Gerade das wird in der Corona-Zeit deutlich: Wir brauchen Gemeinschaft, die menschliche Nähe nicht weniger als das tägliche Brot. Und noch schwerer als die wirtschaftlichen Schäden sind die psychischen und seelischen Schäden, deren Auswirkungen mancher auch in Jahrzehnten noch spüren wird. Und das alles wegen eines Virus, das zwar mikroskopisch klein ist und dennoch innerhalb weniger Monate viele Millionen Menschen infiziert und über eine Millionen Menschen getötet hat.

Dieses Virus führt unserer selbstsicheren Welt vor, wie wackelig die Pfeiler unserer Gesellschaft sind. Es setzt dem Gefühl der technologischen Unbesiegbarkeit Grenzen und zeigt, wie wenig wir letzten Endes Herr über Leben und Tod sind. Trotz aller Bemühungen konnten wir nicht verhindern, dass aus ein paar wenigen Fällen eine weltweite Pandemie geworden ist. Obwohl die Forschung an einer Impfung um ein Vielfaches schneller voranschreitet, als es noch vor wenigen Jahren möglich war, kommt für viele Menschen jede Hilfe zu spät. Ja, es gibt Hoffnung, dieses Virus zu besiegen und auszulöschen, doch nicht ohne in vielfacher Hinsicht hohe Verluste einzustecken.

Der Ort der Schwachheit

Paulus war mit Schwachheit wohlbekannt. Der große Apostel war Überlieferungen zufolge ein eher kleiner Mann, glatzköpfig und mit krummen Beinen. Dazu war er wahrscheinlich chronisch krank:

Mir wurde ein Stachel ins Fleisch gegeben, ein Satansengel, der mich schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe.
– 2. Korinther 12:7

Woran genau er litt, ist nicht sicher bekannt. Vielleicht war es Arthrose, Epilepsie oder Migräne. Möglicherweise war es aber auch eine Augenkrankheit, durch welche seine Sehkraft mit den Jahren immer mehr abnahm. Doch was immer es war: Es muss den Alltag von Paulus zu einer ständigen Qual gemacht haben:

Seinetwegen habe ich den Herrn dreimal gebeten, er möge von mir ablassen.
– 2. Korinther 12:8

Doch das Gebet von Paulus bleibt unerhört. Und damit findet sich Paulus an einem Ort wieder, an wir Jesus zum Vater flehend antreffen:

Und Jesus ging ein wenig weiter, fiel auf sein Angesicht und betete: Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber. Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.
– Matthäus 26:39

Dreimal betet Jesus, er möge dem Leid, das ihn erwartet, entgehen. Doch es führt kein Weg daran vorbei, dass Jesus sein Leben am Kreuz hingibt.

In der Welt Jesu war das Kreuz ein Zeichen der vollkommenen Schwachheit. Am Kreuz zu sterben war dem Abschaum der Gesellschaft vorbehalten: dort starben Schwerverbrecher, Aufständische und Sklaven. Insbesondere die Römer machten aus dem Kreuz zudem ein politisches Zeichen: Es war ein Symbol dafür, dass die römische Machtmaschine am Ende immer siegt. Wer daran dachte, gegen Rom zu rebellieren sah am Kreuz, wo solche Vorhaben immer enden würden.

Es ist dieser Ort der Schwachheit, an dem der Apostel Paulus sich in seinem eigenen Leid wiederfindet:

Und der Herr hat mir gesagt: Du hast genug an meiner Gnade, denn die Kraft findet ihre Vollendung am Ort der Schwachheit. So rühme ich mich lieber meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei mir Wohnung nehme.
– 2. Korinther 12:9 (Zürcher Bibel)

Paulus entdeckt, dass Gott nicht trotz seiner Schwachheit stark ist. Nein! In der Schwachheit, am Ort der Schwachheit selbstoffenbart sich Gottes Kraft! Denn der, der in Schwachheit am Kreuz sein Leben ließ, ist der, der am dritten Tag das Grab verließ. Weil selbst der Tod ihn nicht halten konnte und vor der Macht Gottes kapitulieren musste. Und so muss Paulus lernen, dass er Jesus und seiner Kraft nicht begegnen kann, wenn er nicht auch – wie sein Herr – den Weg der Schwachheit geht. So wie auch Jesus am Kreuz sein Leben ganz in Gottes Hände legt, muss auch Paulus lernen, dass Gott am liebsten dann wirkt, wenn Paulus selbst schwach ist:

Wir haben diesen Schatz [des Evangeliums] in irdenen Gefäßen, damit die Überfülle der Kraft Gott gehört und nicht von uns stammt.
In allem sind wir bedrängt, aber nicht in die Enge getrieben, ratlos, aber nicht verzweifelt, verfolgt, aber nicht verlassen, zu Boden geworfen, aber nicht am Boden zerstört.
Allezeit tragen wir das Sterben Jesu an unserem Leib, damit auch das Leben Jesu an unserem Leib offenbar werde.
– 2. Korinther 4:7-10

Egal, wie ohnmächtig sich Paulus fühlt, egal, wie sehr er unter seiner Krankheit leidet, wie groß seine Nöte durch Verfolgung und Widerstand sind, ganz gleich, wie aussichtslos die Lage auch ist: Es war nicht die Kraft von Paulus, die zählte, sondern die Kraft Gottes. Und die zeigte sich, das hatte Paulus wieder und wieder erlebt, besonders dann, wenn Paulus selbst völlig am Ende war.

In Schwachheit stark

Wenn es für Paulus Hoffnung gibt, dann vielleicht auch für uns. Wenn Paulus erlebt hat, dass in seiner Schwachheit Gottes Kraft sichtbar wird, dann dürfen wir hoffen, dass es bei uns nicht anders sein wird. Wenn er wieder und wieder erlebt hat, dass Gott in höchster Not eingreift und das Blatt wendet, dann dürfen auch wir uns mit unserer Not und unseren Sorgen an Gott wenden und um dasselbe bitten.

Und wenn wir genauer hinschauen, sehen wir, dass Gott schon immer dort besonders am Wirken war, wo es menschlich gesehen keine Aussichten mehr gab: Abraham und Sarah waren schon viel zu alt, um Kinder zu bekommen. Und doch schenkt Gott ihnen mehr Nachkommen, als sich zählen lassen. Joseph landet, als Sklave in ein in fremdes Land verschleppt, im Gefängnis. Und Gott macht ihn zum zweitwichtigsten Mann im Staat. Mose ist schon achtzig Jahre alt und stottert. Und Gott befreit mit ihm das Volk Israel aus der Sklaverei Ägyptens. David war als jüngster Sohn der Familie derjenige, der im Haus die unbedeutendsten Aufgaben zugeteilt bekam und der, als wichtiger Besuch kam, bequemerweise bei den Schafen auf dem Feld vergessen wurde. Und Gott gibt ihm eine Königsherrschaft, die ewig sein soll.

Ja, die Corona-Zeit offenbart, wie schwach wir sind. Wie ohnmächtig wir gegenüber einem kleinen Virus sind. Und doch müssen wir den Mut nicht sinken lassen, solange wir wissen, dass Gott in Schwachheit stark ist. Gestern, heute und für alle Zeit.