Heimweh

Heimweh

I’m Homesick most for a place I don't know
But I knew before, I knew before
Joesl Ansett: Homesick

Manchmal überkommt mich ein Gefühl, das sich am ehesten als Heimweh beschreiben lässt. Als unterbräche ich eine langen Reise, um zu rasten, und während ich mich von den Mühen und Unannehmlichkeiten des Reisens erhole, kommt mir in den Sinn, wohin mich mein Weg führt: Nach Hause.

Es fühlt sich ein wenig an wie auf der letzten Etappe einer Rückreise von insgesamt 5000 km. Nach zwei Wochen in einem entfernteren Flecken Sibiriens sitze ich im Flieger von Moskau nach Hannover und blicke auf die Landstriche, die unter mir vorüberziehen, als es mich trifft: Hier gehöre ich hin. Hier sind Leute, die mich kennen und zu denen ich gehöre. Hier bin ich zuhause.

Doch das Gefühl des Heimwehs, dass mich immer wieder überkommt, scheint weniger damit zu tun habe, wo ich mich gerade aufhalte. Denn egal, wo ich bin, verfolgt mich das Gefühl, nicht zuhause zusein. Ein Gefühl, gegen das ich mich sträube.

Hier zuhause

Es gibt Christen, bei denen ich das Gefühl habe, dass sie sich in der Welt, in der sie leben, äußerst unwohl fühlen. Die versuchen, möglichst wenig Berührung mit ihrer Umwelt zu haben und ihrer unchristlichen Umgebung möglichst wenig Zeit zu widmen. Sie leben in ihrer frommen Blase mit frommen Freunden, frommen Filmen, frommen Bands und frommen Büchern, damit sie sich ja nicht mit dem auseinandersetzen müssen, was ihnen „weltlich“ vorkommt. Die Welt „da draußen“ wird – wenn überhaupt – nur als Negativbeispiel aufgeführt. Wie man nicht leben sollte.

Und ehrlich gesagt gab es Zeiten in meinem Leben, wo ich dafür das beste Beispiel war. Wo ich zwar bestens mit christlichen Freizeiten, Seminaren und Konferenzen versorgt war, aber nicht wusste, was meine Mitmenschen außerhalb der Gemeinde beschäftigt. Wo ich zwar wusste, dass Jesus die Antwort ist, aber nicht sagen konnte, welche Fragen meine Mitmenschen gerade bewegen, geschweige denn, wie Jesus genau diese Fragen beantwortet. Seitdem hat sich viel getan und viele Gespräche mit Leuten in der Stadt aus allen Lebenslagen und Hintergründen haben sehr geholfen, besser zu verstehen, wie Menschen außerhalb meiner Blase ticken und was ihre Fragen, Herausforderungen und Schicksale sind. Doch auch heute ist die Versuchung für mich groß, mich in meine fromme Komfortzone zurückzuziehen, um nicht herausgefordert zu werden.

So komfortabel es auch sein kann, „die Welt“ als böse und verdorben abzustempeln, um sich ihr zu entziehen, ist in mir dennoch in den letzten Jahren die Überzeugung gereift, dass eine solche Lebenshaltung nicht das ist, was Gott sich für diejenigen, die zu ihm gehören, wünscht. Dass diejenigen, die jeglicher Konfrontation mit der Welt um sich herum aus dem Weg gehen, viel vom Reichtum des Lebens, das Gott geben will, einbüßen.

Bonhoeffer schrieb dazu einmal: Ich fürchte, dass die Christen, die nur mit einem Bein auf der Erde zu stehen wagen, auch nur mit einem Bein im Himmel stehen. Oder anders gesagt: Die Welt, in der wir so viel Gefallenes und Zerbrochenes sehen, will Gott nicht abschaffen, in den Mülleimer der Geschichte werfen, sondern erlösen, heilen und erneuern. Wenn wir daran mitwirken wollen, erfordert das von uns den Mut, uns mit der Welt um uns herum auseinanderzusetzen, auch wenn das unangenehm ist und möglicherweise uns selbst und unsere Lebensweise infrage stellt. Unseren Platz in dem Exil, in dem wir sind, auszufüllen fordert unsere ganze Kreativität, Ausdauer und Geduld. Es fordert, unsere Klischees und Konzepte hinter uns zu lassen und uns unvoreingenommen mit den Fragen zu beschäftigen, die unsere Mitmenschen in die Verzweiflung treiben.

In Jesus selbst finden wir dafür das größte Vorbild. Er war nicht stumm, wenn es um die großen Fragen seiner Zeit ging – der Umgang mit der römischen Besatzung, die Ausbeutung der Leute durch die Familie des Hohepriesters, die Sehnsucht nach Gottes rettendem und befreiendem Eingreifen und die Frage, wie dies geschehen würde. Er hat auf diese Fragen sicher keine einfachen Antworten gegeben, war er doch selbst die unerkannte und unverständliche Antwort Gottes auf diese Fragen. Und doch gab es niemanden, der mit seinen Fragen zu Jesus kam, der nicht eine Antwort bekam, auch wenn diese nicht immer angenehm war.

Ewige Heimat

Einige Jahre schon bewegt mich dieses Thema. Unsere Verantwortung in der Welt. Unsere Berufung dazu, unseren Mitmenschen dort zu begegnen, wo sie gerade sind. Unsere Aufgabe, ihnen den Gott zu verkünden, der sich selbst Teil ihrer Welt gemacht hat, um ihnen nahe zu sein. Und doch gab einen Vers, der sich einfach nicht in dieses Bild einfügen wollte:

Im Glauben sind diese alle gestorben, ohne die Verheissungen erlangt zu haben. Nur von ferne haben sie sie gesehen, sie gegrüsst und bekannt, Gäste und Fremdlinge auf Erden zu sein.
– Hebräer 11:13

Gäste und Fremdlinge sein – ist das nicht das Gegenteil davon, unseren Platz in dieser Welt zu finden? Ist das nicht genau die Weltflucht, die mir so ungesund scheint? Für mich ist das keine rein intellektuelle Frage, sondern sehr persönlich. Als Third-Culture-Kid bin ich zwischen zwei Kulturen aufgewachsen. Da gab es in meinem Leben kaum Zeiten, in denen ich nicht das Gefühl hatte, irgendwie zwischen den Stühlen zu sitzen. Die Frage, wer ich bin und wo ich dazugehöre war für mich nie leicht zu beantworten. Gast und Fremdling zu sein, damit bin ich vertraut – und ein großer Teil meines Heranwachsens war davon geprägt, dieses Gefühl der Unzugehörigkeit zu überwinden. Verdammt mich dieser Vers dazu, mich bis zu meinem letzten Atemzug fremd und fehl am Platz zu fühlen? Immer davon getrieben zu sein, dass ich nicht ganz dazugehöre?

Und dann dieses Gefühl von Heimweh, das ich weder leugnen noch unterdrücken kann. Ein Gefühl von Sehnsucht, in dessen Angesicht alle anderen Sehnsüchte verblassen.

To see the face of my King is my sole desire. I fear none but Him; I revere only Him. Would that I might see Him in a dream! I would continue to sleep for all eternity. Would that I might behold His face within my heart! Mine eyes would never ask to look at anything else.
– Jehuda ha-Levi

Oder wie Paulus es ausgedrückt hat:

Ja, in der Tat, ich halte das alles für wertlos im Vergleich mit der überragenden Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, um dessentwillen mir alles wertlos wurde, und ich betrachte es als Dreck, wenn ich nur Christus gewinne und in ihm meine Heimat finde.
– Philipper 3:8-9

Wenn ich Jesus sehen und bei ihm sein darf, dann verliert alles andere sein Gewicht. Seine Gegenwart zu schmecken ist, wonach sich mein Herz mehr sehnt, als nach allem anderen. Deshalb kann ich mich nicht zuhause fühlen, solange ich nicht mit Jesus vereint bin. Deshalb werde ich nie angekommen sein, bis ich bei Jesus angekommen bin. Weil er selbst die Heimat ist, nach der ich mich sehne. Er selbst ist, wo ich hingehöre. Wo ich angenommen bin. Wo man mich kennt und versteht.

Glaube auf dem Weg

Liebe Brüder und Schwestern, ich bilde mir nicht ein, dass ich selbst es ergriffen hätte, eins aber tue ich: Was zurückliegt, vergesse ich und strecke mich aus nach dem, was vor mir liegt. Ich richte meinen Lauf auf das Ziel aus, um den Siegespreis zu erringen, der unserer himmlischen Berufung durch Gott in Christus Jesus verheissen ist.
– Philipper 3:13

Es scheint mein Herz in beide Richtungen gleichzeitig zu ziehen: Ganz in dieser Welt zu sein, die Gott geschaffen hat. Mich für ihr Wohlergehen und ihre Errettung einsetzen. Doch zugleich auch bei Jesus zur Ruhe zu kommen, in seiner Gegenwart ans Ziel finden. Und je mehr ich darüber nachdenke, umso deutlicher sehe ich, wie sehr ich beides brauche.

Ich brauche die Liebe zur Welt, weil auch Gott die Welt liebt und sie erlösen will. Und weil er mich dazu auffordert, mich nicht in meiner Komfortzone zu vergraben, sondern die Menschen zu lieben, die ihm selbst so sehr am Herzen liegen. Und zugleich brauche ich die Liebe zu Jesus, um nicht aus dem Blick zu verlieren, zu welchem Ziel mich mein Weg führt. Um nicht zu vergessen, dass das Leben diesseits der Ewigkeit – wie C.S. Lewis beschrieben hat – nur der Umschlag und das Titelblatt von der Geschichte ist, die in der Ewigkeit beginnt.

Bis wir dort sind, werden wir auf dem Weg sein. Herausgefordert von der Spannung von Gegenwart und Ewigkeit. Hin und hergerissen zwischen dem, was ist und dem, was kommt. Und doch frohen Mutes, weil das beste noch vor uns liegt: Bei Jesus selbst anzukommen, in seiner Gegenwart zur Ruhe zu finden und zu wissen, dass wir endlich zuhause sind.

Geschaffen hast du uns auf dich hin, o Herr, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.
– Augustinus