Handelndes Gebet
Handeln oder Beten?
Diese Frage verfolgt mich seit Längerem. Reicht es, wenn ich für Nöte, die ich sehe, bete? Oder soll ich nicht aufhören zu beten, die Ärmel hochkrempeln und mit anpacken?
Ich denke an eine Begegnung mit einem sehr aufgebrachten Mann in der Innenstadt. Ich war mit ein paar Freunden in der Stadt unterwegs, um Menschen Gebet anzubieten. Und es ergab sich ein Gespräch mit einem Mann, dessen Enttäuschung über uns nur allzu offensichtlich war. Energisch erklärte er uns, wie falsch es war, dass wir Leuten von Jesus erzählten und Gebet anboten. Dass die Christen die gesellschaftlichen und sozialen Probleme der Menschen um sie herum nicht wahrnehmen. Wo sind denn die Christen, die gegen all diese Ungerechtigkeiten gegenüber den Obdachlosen, Drogenabhängigen und Ausgestoßenen aufstehen, fragte er mich eindringlich. Wo sind die Menschenketten und Mahnwachen vor den politischen Einrichtungen auf allen Ebenen? Wo sind die Christen, die nicht nur von Liebe reden, sondern auch mit Liebe handeln? Nicht, dass er ein Problem mit Jesus oder dem Glauben hat. Im Gegenteil! Er sei selbst Christ, erklärte er. Aber er hat ein großes Problem mit den Christen.
Was der Mann sagte, bewegte mich tief. Denn er hat irgendwie recht! Wie oft ziehen wir Christen uns in unsere Gemeindehäuser zurück, beten für die Nöte dieser Welt und meinen, unsere fromme Pflicht sei damit getan. Wie oft gehen wir durch die Straßen unserer Städte, sehen einen Obdachlosen sitzen und beten im Herzen, dass Gott ihm hilft und helfen ihm selbst nicht, weil wir keine Zeit haben, das Leid anderer Menschen zu sehen. Wie oft lässt uns die Not unserer Mitmenschen kalt, weil es uns nicht selbst betrifft. Wie viele von uns klagen über unsere Politiker und ihre Entscheidungen, sind aber selbst nicht bereit, politische Verantwortung zu übernehmen und sich politisch zu engagieren.
Löst die Fesseln der Gefangenen, nehmt das drückende Joch von ihrem Hals, gebt den Misshandelten die Freiheit und macht jeder Unterdrückung ein Ende! Ladet die Hungernden an euren Tisch, nehmt die Obdachlosen in euer Haus auf, gebt denen, die in Lumpen herumlaufen, etwas zum Anziehen und helft allen in eurem Volk, die Hilfe brauchen!
– Jesaja 58:6-7
Es gibt sie: Christen, die sich für Gerechtigkeit und Frieden eingesetzt und damit Geschichte geschrieben haben. William Wilberforce, der in den 1780ern für die Abschaffung des Sklavenhandels gekämpft hat. Martin Luther King, der die Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner der 1950er und 60er in den USA angeführt hat und bis zu seiner Ermordung am gewaltlosen und friedlichen Protest festhielt. Desmond Tutu, der sich in den 1970ern und 80ern für die Abschaffung der Apartheid-Rassentrennung in Südafrika einsetzte und später der Wahrheits- und Versöhnungskommission vorstand, um die Verbrechen der Apartheid aufzuarbeiten und Versöhnung zu ermöglichen. Die vielen Pastoren, Priester und andere Christen, die sich in der DDR in den 1980ern unter Einsatz ihrer eigenen Freiheit für die Freiheit ihrer Landsleute aufstanden.
Und doch scheint es heute nicht, als wären wir Christen für unseren Einsatz für Gerechtigkeit bekannt. Wer Leute auf der Straße auf ihr Bild von der Kirche anspricht, wird mehr von den Ungerechtigkeiten, an denen sich Christen beteiligt haben als von ihrem Einsatz für Gerechtigkeit hören. Wir Christen scheinen mehr dafür bekannt zu sein, was wir ablehnen, als für was wir einstehen. Wir sind nicht dafür bekannt, dass wir unseren Nächsten lieben.
Handelndes Gebet
Ja, der Mann, der mir erzählte, wie wenig sich Christen für Gerechtigkeit einsetzen, hatte irgendwie Recht damit. Doch zugleich hatte er dabei auch zutiefst Unrecht. Weil er die wahre Dimension des Gebets nicht erkennt.
Denn nur das Gebet befähigt uns, die Nöte unserer Mitmenschen zu erkennen und unserem Nächsten zu dienen. Alles andere ist naiver Aktionismus.
Wenn wir uns für Gerechtigkeit einsetzen, ohne dass unsere Sehnsucht nach Gerechtigkeit im Gebet verwurzelt ist, laufen wir Gefahr, stolz zu werden. Wir laufen Gefahr, zu versuchen, Gott in unser Projekt einzuspannen, anstatt dort mitzuarbeiten, wo Gott schon am Werk ist. Wir laufen Gefahr, Gott als ein Puzzlestück in unserem Plan zu sehen statt zu erkennen, dass wir ein Puzzlestück in seinem Plan sind. Wir laufen Gefahr, uns selbst zum Gott zu machen und zu meinen, wir würden das Geschick der Menschheit in unseren Händen haben.
Denn all unsere Sehnsucht nach Gerechtigkeit muss sich zuerst dieser Wahrheit stellen: dass Gott alles unter Kontrolle hat, wie er es schon immer hatte und auch immer haben wird. Gott lenkt die Weltgeschichte und streng genommen braucht er unsere Hilfe dafür nicht. Er verwirklicht seinen Plan für Gerechtigkeit und schafft Recht, mit oder ohne uns. Jesus wird wiederkommen, Gericht halten und alles neu machen, ob wir uns für ihn einsetzen oder nicht.
Unser Einsatz für Gerechtigkeit muss zuerst mit der Erkenntnis beginnen, wie unfähig wir sind, die Welt zu verändern. Wir müssen eingestehen, wie viel Hilfe und Heilung wir selbst brauchen und dass wir selbst Teil des Problems sind, das wir lösen wollen. Dass wir selbst die Rettung und Hilfe brauchen, die wir unseren Mitmenschen bringen wollen.
Wir müssen uns eingestehen, dass Gott schon längst dabei ist, diesen Menschen zu helfen, bevor wir überhaupt darüber nachgedacht haben. Dass es immer mit Gottes Liebe anfängt, nicht mit der unseren. Dass Gottes Liebe die Welt und unsere Mitmenschen mehr verändert, als all unsere Bemühungen und Anstrengungen es je könnten.
Und wir müssen verstehen, dass alle sozialen und politischen Lösungen allein nie ersetzen können, was Gott in einem Herzen tut, das sich ihm öffnet. Dass unsere Mitmenschen Erlösung ebenso brauchen wie Gerechtigkeit und Freiheit. Dass praktische und geistliche Hilfe Hand in Hand gehen müssen und einander nicht ausschließen sondern benötigen.
Es gibt keinen Ort, an dem wir all das mehr erkennen, als das Gebet. Im Gebet erkennen wir unsere eigenen Fehler und unsere Fehlerhaftigkeit. Wir erkennen unsre Ohnmacht und unsere eigene Schwäche. Aber wir erkennen auch, wie groß Gottes Liebe ist und wie groß seine Sehnsucht nach Gerechtigkeit ist. Wie sehr ihm jeder Mensch am Herzen liegt. Dass er tun kann, was uns nicht möglich ist.
Und im Gebet erkennen wir, dass Gott sein Wirken in der Welt mit uns teilen möchte. Dass er dich, dass er mich einlädt, mit ihm zusammen unsere Mitmenschen zu lieben und uns für sie einzusetzen. Dass er uns einlädt, an seiner Seite zu arbeiten, weil Gott alles, was er hat, mit uns teilen will. Gott braucht uns nicht. Aber weil er uns liebt, will er uns in alles, was er tut, miteinbeziehen.
Dieses Gebet ist kein Widerspruch zum Handeln. Es ist nicht eine Art Trostpreis für die, die nichts tun wollen. Im Gegenteil: Aufrichtiges Gebet ist immer zum Handeln bereit. Weil aufrichtiges Gebet immer liebendes Gebet ist. Und weil Liebe die Füße nicht stillhalten kann, wenn sie Leid und Unrecht sieht.
Echtes Gebet ist liebendes Gebet. Und liebendes Gebet ist immer auch handelndes Gebet. Es ist im Kern ein Ausdruck von Liebe. Es ist eine Liebe, die dort sein will, wo Gott ist: bei den Schwachen, Unterdrückten, Ausgestoßenen und Leidenden. Eine Liebe, die die Nöte dieser Menschen vor Gott bringt und bei ihm Kraft und Kreativität findet, um diesen Nöten zu begegnen.
Diese betende und handelnde Liebe ist sich nicht zu schade, die Hände dreckig zu machen. Sie lässt sich von sozialen oder politischen Grenzen nicht aufhalten. Sie gibt nicht nach, wenn sie Zurückweisung oder Widerstand erfährt. Sie bleibt beständig in Herausforderungen und Dürrezeiten. Weil es die Liebe Gottes selbst ist. Es ist Liebe, die handelt, weil Gott selbst am Wirken ist.
Menschen des Gebets
Solch ein Gebet ist ein hoher Anspruch und ich selbst hab dieses Ziel noch lange nicht erreicht. Aber ich will mich danach ausstrecken, dass Gott mich nicht nur zu einem Beter, sondern zu einem Menschen des Gebets macht. Denn was die Welt braucht, sind nicht Menschen, die mal mehr oder weniger beten, sondern deren ganzes Leben und ganzes Wesen Gebet ist:
It is not enough to possess prayer: we must become prayer – prayer incarnate. It is not enough to have moments of praise; our whole life, every act and every gesture, even a smile, must become a hymn of adoration, an offering, a prayer. We must offer not what we have but what we are. That is what the world needs above all else: not people who ‘say prayers’ with greater or less regularity, but people who are prayers.
Es reicht nicht, Gebet zu beherrschen– wir müssen Gebet werden: menschgewordenes Gebet. Es ist nicht genug, Momente der Anbetung zu haben. Jede Handlung, jede Geste, ja, selbst ein Lächeln muss zum Lobgesang, zu einem Opfer, zum Gebet werden. Wir müssen Gott nicht bringen, was wir haben, sondern was wir sind. Was die Welt braucht nicht Menschen, die mehr oder weniger oft Gebete sprechen, sondern Menschen, die Gebete sind.
– Paul Evdokimov
Es geht nicht um die Häufigkeit, wie oft mit ich Gott spreche und ihm dabei von dem einen oder anderen Anliegen zu erzählen. Es geht darum, so tief in der ständigen Gemeinschaft mit Gott verwurzelt zu sein, dass jeder Gedanke und jede Handlung aus dieser Gemeinschaft überfließt und ihr Ausdruck ist. Es geht nicht darum, gut im Beten zu sein, sondern darum, ein Leben zu führen, das ein Gebet des Lobes und der Fürbitte an Gott ist.
Weil Gebet im Grunde nichts anderes als Liebe ist, heißt beten zu lernen nichts anders als lieben zu lernen. Gott mit ganzem Herzen, ganzer Seele und mit dem ganzen Verstand und mit aller Kraft zu lieben. Und seinen Mitmenschen zu lieben wie sich selbst. Das ist unser Auftrag, unsere Berufung, unsere Bestimmung und unsere Erfüllung.
Das soll also euer Ziel sein: ein Leben, das von der Liebe bestimmt wird.
– 1. Korinther 14:1
Und das ist das Gebot, wie ihr es von Anfang an gehört habt: dass ihr euren Weg in der Liebe gehen sollt.
– 2. Johannes 1:6
Sollen wir also handeln oder beten? Die Dinge in die Hand nehmen oder sie vor Gott bringen? Weder noch. Denn zuallererst sollen wir lieben. Unseren Gott und unseren Nächsten. Und aus der Liebe zu unserem Nächsten heraus für ihn beten. Und aus dem Gebet heraus für unseren Nächsten da sein und ihm oder ihr dienen, so wie Gott es schon lange tut.
So, wie es Jesus uns vorlebt.