Unter Kontrolle

Unter Kontrolle
Dieser Text entstand am 23.o2.2020, als der Corona-Virus noch ein Randthema in den Nachrichten war. Einen Monat später hat die Corona-Krise Deutschland mehr als erreicht. Mir scheint, dass der Text seitdem nicht weniger relevant ist, gerade im Licht der aktuellen Umstände.

Mir wird immer wieder gesagt, dass ich bei Leuten in meinem Umfeld den Eindruck erwecke, dass ich wüsste, wo es langgeht. Dass ich gut organisiert sei und mich und mein Leben unter Kontrolle hätte. Aber manchmal habe ich da Zweifel dran.

Natürlich möchte ich gern glauben, dass ich alles im Griff habe. Ich möchte nur zu gern wahrhaben, dass ich alles unter Kontrolle habe. Wer will das nicht? Niemand will sich ohnmächtig in seinem eigenen Leben fühlen.

Und es gibt Grund genug, zu glauben, ich hätte tatsächlich alles im Griff. Ich bin ein absoluter Notiz-Fanatiker. Meine Notizbuch-App ist fast schon ein Teil von mir. Ich schreibe mir fast alles auf. Was ich wem wann schenken möchte. Was ich einkaufen muss. Dinge, die ich erledigen möchte. Aber auch interessante Gedanken; Themen, über die ich mit meiner Frau sprechen möchte; gute Zitate aus Büchern, die ich gelesen habe; Gedanken aus Predigten und Vorträgen, Artikeln, Blog-Posts, …

Ebenso führe ich meine digitale Todo-Liste: Haushaltsaufgaben, Erledigungen, Erinnerungen, Reflexionen, Projekte – alles erhält einen Eintrag in der nie endenden Aufgabenliste und wird Woche für Woche eingeplant, um erledigt zu werden.

Wie kann man sein Leben da nicht unter Kontrolle haben?

Und dann zwei Wochen vor der Hochzeit die Nachricht: Unsere Fotografin kann aus gesundheitlichen Gründen nicht wie geplant Fotos machen. Der Grund ist völlig nachvollziehbar. Niemand hat etwas falsch gemacht. Aber dennoch: Das stand so nicht im Plan.

Es ist einer der Augenblicke, in denen ich merke, wie wenig ich in der Hand habe.

Die Hochzeit selbst planen Theresa und ich schon seit letztem Sommer, seit Anfang Januar sind wir voll im Hochzeitsmodus und verbringen fast unsere ganze Freizeit mit Planung und Vorbereitung. Überlegen uns, wie die Deko aussehen soll. Treffen uns mit Leuten, die an der Feier beteiligt sind. Machen das, was wir am besten können – stellen Listen und noch mehr Listen auf: Gästelisten, Budget-Listen, Aufgabenlisten, Checklisten.

Je näher der große Tag rückt, desto mehr steigt die Aufregung. Und desto öfter kreisen meine Gedanken um diese Frage: An was muss ich noch denken? Was habe ich noch nicht geplant, nicht aufgeschrieben? Die ganzen Listen, die dabei entstehen, helfen mir, dabei den Verstand zu nicht verlieren. Nicht in Panik zu verfallen. Sachlich zu bleiben.

Die Listen geben mir Sicherheit. Vielleicht etwas zu viel Sicherheit. Sie geben mir das Gefühl – nein, die Illusion – alles in der Hand zu haben. Sie versprechen mir, das Chaos der Welt um mich herum zu bändigen und auf Stichpunkte herunterzubrechen. Sie versprechen mir Planbarkeit, Verlässlichkeit. Doch das Versprechen können sie nicht halten.

Aber ganz ehrlich: Die Listen sind nicht das Problem. Sie sind ja nur Ausprägungen meiner Gedanken, ein Produkt meines Verstandes. Das Problem liegt in meinem Herzen. Es ist der Impuls, selbst zurechtkommen zu wollen. Mich mit allem nicht zuerst an Gott zu wenden, sondern mich mit mir selbst zu beraten und meinen eigenen Plan zu machen. Erst, wenn sich meine Pläne mal wieder in Luft auflösen, merke ich, wie sehr ich die ganze Zeit schon von Gott abhängig war.

Schaut auf die Vögel des Himmels: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie?
– Matthäus 6:26

Jesus muss an mich gedacht haben, als er diesen Satz gesagt hat. Er stellt eine Frage, die kaum einfacher sein könnte: Gott versorgt die Vögel des Himmels – wird er dich dann nicht erst recht versorgen?

Eine Frage, die so einfach, aber zugleich so unendlich tief ist. Weil sie offenbart, was ich mir selbst nicht eingestehen möchte: Ich bin genauso auf Gott angewiesen, wie die Vögel des Himmels. Genau wie sie lebe ich jeden Tag, jede Sekunde aus seiner Hand. Nur, dass Vögel keine Listen schreiben, um sich sicherer zu fühlen. Sie wissen, dass sie auf Gottes Fürsorge angewiesen sind. Und sie vertrauen darauf, dass ihr Schöpfer sie nicht übersieht, sie nicht vergisst.

Sorgt euch also nicht und sagt nicht: Was werden wir essen? Oder: Was werden wir trinken? Oder: Was werden wir anziehen? Denn um all das kümmern sich die Heiden. Euer himmlischer Vater weiß nämlich, dass ihr das alles braucht.
– Matthäus 6:31

Jesus weiß, was ich brauche. Er braucht meine Listen nicht. Er wünscht sich nicht meine Listen, sondern mein Vertrauen. Er wünscht sich, dass ich erkenne, wie klein meine Möchtegern-Pläne neben seinen Gedanken sind. Dass ich den Tatsachen ins Auge schaue und mir eingestehe, dass ich nichts in der Hand habe. Nicht einmal den nächsten Atemzug.

Er wünscht sich, dass ich in allem Stress, allen Aufgaben und Erledigungen stillhalte und erkenne, dass alles in seiner Hand liegt. Dass er alles gut macht. Und dass niemand enttäuscht wird, der ihm sein Vertrauen schenkt.

Heißt das, dass es immer alles nach Plan gehen wird? Ja! Nach Jesu Plan, nicht nach meinem Plan. Und ganz ehrlich: für mich sieht Jesu Plan manchmal nach einem riesigen Umweg aus. Aber Gottes Umwege sind kürzer als meine Abkürzungen. Immer. Auch wenn das heißt, dass zwei Wochen vor der Hochzeit die Fotografin absagt. Auch wenn das heißt, dass mir an manchen Tagen nichts anderes übrig bleibt, als alles in Gottes gute Hände zu legen. Denn ich kann so oder so nichts besseres tun.

Das Leben ist ein Geschenk und jeder Tag ein unbezahlbares Wunder, jede Sekunde eine Zugabe. Ich weiß nicht, warum das Leben so ist, wie es ist. Ich weiß nicht, wieso manche Menschen gesund werden und andere sterben. Ich weiß nicht, warum manche Gebete erhört werden und manche (scheinbar) nicht.

Aber ich weiß, dass das Leben ein Geschenk ist. Ich weiß, dass es nichts ist, was wir verdienen, erschaffen, kontrollieren oder erhalten können.

Ich weiß, dass eine Sache wahr ist: Wir vergessen, dass wir sterben müssen. Die andere Wahrheit ist: Wir vergessen, dass wir leben.
– John Ortberg