Den Fremden lieben

Es sind die frühen Morgenstunden des vierten Juni 1862 im westpreußischen Marienburg. Es ist noch frisch, Morgentau benetzt die blühenden Sträucher und Büsche. Unter dem Wiehern von Pferden setzt sich langsam ein Wagentross in Bewegung; Pferdegespanne, die mit Hausrat, Wäsche, Ackergerät, Verpflegung und einigen persönlichen Habseligkeiten beladen sind. Außerdem drei Familien, die ihre Heimat für immer verlassen, die Freunden und Verwandten zum wahrscheinlich letzten Mal Lebewohl gesagt haben.
Am 4. Juni 1862 verließen wir noch in den Morgenstunden Heimat und Vaterhaus. Lange Zeit vorher hatten wir mit Reisevorbereitungen und Verabschiedungen von Freunden und Verwandten zu tun. Und ich tat es gerne, in der Hoffnung, für die letzten Tage noch etwas Ruhe und Sammlung zu gewinnen. Dazu aber kam es nicht.
Am Tag vor der Abreise war ich noch mit Bruder Johannes bei Tante im Felde zum Abschied und als wir von da zurück kamen, sagten wir noch mit den Schwestern der Nachbarschaft und allen lieben Plätzen des Dorfes „Lebewohl", aber es geschah alles in so großer Unruhe und Zerstreuung, daß ich nur kaum den Ernst der Sache empfand. Überhaupt fühlte ich den ersten, bitteren Stachel des Scheidens schon seit längerer Zeit in mir um vieles gemildert, ich war schon durch die vielen Sorgen und Vorbereitungen sehr davon abgekommen, aber es war auch noch etwas anderes, was mich der großen Umwälzung unserer äußeren Existenz fügsamer machte. Zwar nur dunkel und unbestimmt, war es doch die Hoffnung, mit dem Verlassen der alten Heimat, auch all die vielen Schmerzen und Wehen, alle die traurigen Verwirrungen und Verwicklungen, die so oft mein erstes Lebensalter getrübt, darin zurück zu lassen; - und in der neuen Heimat auch ein neues Leben zu finden.
— Reisetagebuch von Anna Janzen von 1862[1]
Sie sind desillusioniert. Enttäuscht. Entfremdet von einer Heimat, die sie nicht wieder erkennen. Seit der deutschen Revolution von 1848/49 ist zwar schon mehr als ein Jahrzehnt vergangen, doch die Unsicherheit ist nie ganz gewichen. Derselbe Artikel, der die Gleichheit aller Deutschen vor dem Gesetz bestimmt, legt auch eine allgemeine, ausnahmslose Wehrpflicht fest, die in den Debatten um die neue Verfassung zur „erste[n] Pflicht des Staatsbürgers“ erkoren wird. Eine Verweigerung aus Gewissensgründen, wie wir sie heute kennen, wird zwar diskutiert, aber schließlich unter expliziter Bezugnahme auf die mennonitischen Glaubenssätze abgelehnt.[2]
Obwohl die Frankfurter Verfassung nie durchgesetzt wird, ist sie für Mennoniten, die einen Dienst an der Waffe nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren können und denen der deutsche Kaiser die Wehrfreiheit, die Befreiung vom Wehrdienst, garantiert hatte, mehr als eine Katastrophe: Es ist ein Weltuntergang, nicht nur im übertragenden Sinn. Die Welt, die sie kannten, in denen sie Rechte und manche Privilegien hatten, ist untergegangen und einer Welt gewichen, die ihnen fremd ist.
Die drei Familien, von deren Reise Anna Janzen schreibt, sind nicht allein. Über zweihundert Familien von insgesamt etwa anderthalbtausend Personen, fast allesamt Mennoniten, wandern in diesen Jahren nach Russland aus, wo ihnen der Zar Land und Privilegien zugesichert hat. An der Wolga gibt es urbares Land, fern von den politischen Unruhen von Revolution und Gegenrevolution, fern von Patriotismus und Nationalismus. Den mennonitischen Kolonien wird weitgehende Autonomie zugesichert, außerdem die Befreiung vom Wehrdienst. Im Gegenzug erwartet die russische Regierung einen Entwicklungsschub in der Landwirtschaft durch die von den Siedlern mitgebrachten modernen Technologien: Sense, Pflug und Dreschmaschine.
Die Wirklichkeit wird wie so oft hinter den Versprechen zurückbleiben. Es fehlt an Infrastruktur: Bauholz muss aus einer Entfernung von 60 km beschafft werden, während Getreide zum Verkauf bis zu 120 km per Pferdewagen transportiert werden muss, wo es nur zu niedrigen Preisen verkauft werden kann. Auch politisch wird es nicht besser. Schon 1871 werden Privilegien wie die Selbstverwaltung der Siedler aufgehoben, drei Jahre später wird eine allgemeine Wehrpflicht eingeführt, welche die Mennoniten nur durch das Ableisten eines bis zu dreijährigen Dienstes in einem Forstkommando umgehen können. Übrig bleibt das Gefühl, fremd zu sein, sogar in der neuen Heimat.
Den Fremden lieben
Ungefähr dreitausend Jahre bevor die Mennoniten eine neue Heimat an der Wolga suchen, bricht eine Gruppe von Sklaven aus Ägypten auf. Sie sind größtenteils Nachkommen Abrahams, obwohl sich ihnen auch einige Ägypter anschließen und auch Menschen anderer Herkunft unter ihnen sind[3]. Ihr Ziel ist ein Land des Überflusses, das Gott selbst ihnen zugesagt hat:
Große und schöne Städte, die du nicht gebaut hast, Häuser, voll von jeglichem Gut, die nicht du gefüllt hast, ausgehauene Zisternen, die nicht du ausgehauen hast, Weinberge und Olivengärten, die nicht du gepflanzt hast.
— 5. Mose 6:10-11
Es ist dem biblischen Zeugnis zufolge eine Gruppe, die weder ausgesprochen bedeutsam noch besonders homogen ist[4]. Und der Weg ins gelobte Land ist kein Siegeszug. Kaum haben sie die Grenzen Ägyptens hinter sich gelassen und ihr Lager in der Sinai-Wüste aufgeschlagen, beginnen die Ersten, sich zurück nach Ägypten zu sehnen. Die Streitereien, die zu dieser Zeit anfangen, werden für den Rest der Geschichte Gottes mit Israel nicht mehr aufhören.
Es ist in dieser Zeit, als Gott seinem Volk eine Lebensordnung gibt. Es ist mehr als eine Sammlung von Vorschriften, die wir häufig mit dem Wort „Gesetz“ verbinden. Es ist eine Weisung im Sinne eines Wegweisers, der den Weg zu einem Leben in Gemeinschaft mit Gott aufzeigt. Es ist eine Ordnung im Sinne eines Gartens, in dem jeder Baum und jede Blume am richtigen Platz ist und zur vollen Entfaltung gelangen kann.
Man kann sich nur schwer vorstellen, wie radikal, geradezu revolutionär die Lebensordnung ist, die Gott dem neu gebildeten Volk gibt. Nicht nur, dass sie die Würde aller Menschen unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Gesellschaftsstatus direkt in der Schöpfung verankert. Nicht nur, dass sie Könige demselben Gesetz unterstellt wie das Volk, über das sie herrschen. Die Lebensordnung, die Gott gibt, tut etwas, das kein anderes Gesetz der damaligen Zeit tut: Es erhebt das Schicksal der Schwachen und Schutzlosen zum persönlichen Anliegen Gottes. Ihr Schicksal wird Chefsache auf allerhöchster Ebene.
Einen Fremden sollst du nicht bedrängen und nicht quälen, seid ihr doch selbst Fremde gewesen im Land Ägypten. Eine Witwe oder eine Waise sollt ihr nicht erniedrigen. Wenn du sie erniedrigst und sie zu mir schreien, werde ich ihr Schreien hören, und mein Zorn wird entbrennen, und ich werde euch töten mit dem Schwert, so dass eure Frauen Witwen und eure Söhne Waisen werden.
— 2. Mose 22:20-23
Die Götter der israelitischen Nachbarvölker interessierten sich nicht für die Schwachen und Schutzlosen. Nein, sie waren launisch und auf ihre eigene Macht versessen. Sie nahmen sich von den Menschen, was sie begehrten. Überhaupt war es ein schreckliches Schicksal, die Aufmerksamkeit der Götter auf sich zu ziehen; ein Schicksal, das durch zahllose Opfer abgewendet werden musste.[5]
Nicht viel anders sah es in den Gesetzessammlungen von Israels Nachbarn aus. Diese Gesetze waren deutlich mehr am Schutz vor Verarmung als dem Wohlergehen der Armen interessiert. Es ging mehr darum, bereits wohlhabende Familien vor dem Verfall in die Armut durch Unterdrückung oder Ausbeutung zu schützen, nicht so sehr darum, den Armen aus ihrer Not zu helfen.
Das Gesetz[6] schützt nicht die Armen als Gesellschaftsschicht, sondern die Verarmten, d. h. die Familien, die Gefahr laufen, ihren Platz auf der sozioökonomischen Leiter zu verlieren.
— Law from the Tigris to the Tiber: The Writings of Raymond Westbrook[7]
Die Lebensordnung, die Gott dem Volk Israel gibt, setzt völlig entgegengesetzte Maßstäbe.
Wenn einer arm ist bei dir, einer deiner Brüder, in irgendeiner Ortschaft in deinem Land, das der HERR, dein Gott, dir gibt, dann sollst du dein Herz nicht verhärten und deine Hand nicht verschließen vor deinem armen Bruder, sondern deine Hand für ihn auftun und ihm leihen, so viel er braucht. […] Du sollst ihm willig geben und nicht missmutig sein.
— 5. Mose 15:7-8, 10
Immer und immer wieder betont Gott, dass er sich für das Recht des Armen einsetzen wird, wenn es die Machthaber des Volkes nicht tun. Nicht weniger deutlich ist er, wenn es um andere schutzbedürftige Gruppen wie Witwen, Waisen und Fremden ging:
Denn der HERR, euer Gott, ist der Gott der Götter und der Herr der Herren, der große, starke und furchtbare Gott, der kein Ansehen der Person kennt und keine Bestechung annimmt, der der Waise und der Witwe Recht verschafft und den Fremden liebt, so dass er ihm Brot und Kleidung gibt. Auch ihr sollt den Fremden lieben; denn ihr seid selbst Fremde gewesen im Land Ägypten.
— 5. Mose 10:17–19
Wie radikal diese Vorstellung war, zeigt der Blick zu den Nachbarvölkern:
Ausländer befanden sich im alten Nahen Osten in einer prekären Situation. Außerhalb ihres eigenen Landes oder ihrer ethnischen Gruppe hatten sie keine Rechte, es sei denn, sie standen unter dem Schutz der örtlichen Herrscher. […] Wie ein babylonisches Sprichwort sagt: „Ein ansässiger Fremder in einer fremden Stadt ist ein Sklave“.
— Law from the Tigris to the Tiber: The Writings of Raymond Westbrook
Zehn Mal[8] erinnert Gott die Israeliten in den Geboten seiner Lebensordnung daran, dass sie in Ägypten Sklaven und Fremde waren. Niemals dürfen sie vergessen, aus welchen Umständen Gott sie befreit hatte. Niemals dürfen sie zulassen, dass dieselben Zustände je bei ihnen herrschen. Denn:
Der HERR behütet die Fremden,
Waisen und Witwen hilft er auf,
doch in die Irre führt er den Weg der Frevler.
— Psalm 146:9
Fremde Heimat
Unter den Mennoniten, die in den 1850ern und 60ern nach Russland ausgewandert waren, waren auch meine Vorfahren. Es war ein Volk ohne Heimat.[9]
Als Nachfolger von Menno Simons und Teil der reformatorischen Täuferbewegung gehörten sie zu einer protestantischen Strömung, die weder in der lutherischen noch in der reformierten Kirche zu Hause war. Im sechzehnten Jahrhundert siedelten viele Mennoniten, die ihre Wurzeln vor allem im niederländischen und norddeutschen Raum hatten, aufgrund der zunehmenden Verfolgung ins unter polnischer Herrschaft stehende Königlich Preußen um, wo sich an der Weichsel niederließen.
Etwa dreihundert Jahre später wanderten meine Vorfahren im Zuge der Deutschen Revolution nach Russland aus. Für einige Zeit gelang es ihnen, einen moderaten Wohlstand aufzubauen, doch es war ein kurzes Glück. Der Erste Weltkrieg und die darauffolgende Russische Revolution im Jahr 1917, bei der die Kommunisten die Macht im Land übernahmen, führten zu weitreichenden Entrechtungen und Enteignungen, die später teilweise zurückgenommen wurden. Trotzdem blieb die Lage in den Folgejahren angespannt. Der Tod Lenins und die Machtübernahme Stalins 1927 führten zu einer kompletten Verstaatlichung aller Betriebe, was zu einer weitläufigen Enteignung und Zwangskollektivierung der Siedler führte. Die Lage verschlimmerte sich erneut, als Hitler die Macht in Deutschland an sich riss. Eine neue Welle der Repression schwemmte über die deutschen Siedler, die als „Agenten des faschistischen Regimes“ verdächtigt und teils verhaftet und hingerichtet wurden.
Dann kam der Zweite Weltkrieg. In den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941 begannen 121 deutsche Divisionen mit insgesamt über drei Millionen deutschen Soldaten auf einer 2130 km breiten Front den Vormarsch auf die Sowjetunion. Die Reaktion der sowjetischen Führung ließ nicht lange auf sich warten. Im August 1941 wurden die deutschen Siedler per Dekret der Kollaboration für schuldig erklärt und in den folgenden Wintermonaten bei tiefsten Minusgraden nach Kasachstan und Sibirien deportiert, darunter meine Großeltern.
Es vergingen zwanzig Jahre von harten Repressionen, bis im Jahr 1964 ein neues Dekret den Vorwurf der Kollaboration zurücknahm. Die Deutschen, die sich in russischen Dörfern angesiedelt hatten, waren damit offiziell rehabilitiert, dennoch wurden sie vielfach doppelt diskriminiert: Sie waren vielfach nicht nur Deutsche, sondern auch noch Christen und damit nicht nur gesellschaftlich Außenstehende, sondern auch ideologische Feinde des atheistischen Kommunismus.
Der Zerfall der Sowjetunion 1990/91 war eine Zäsur in der Geschichte der Russlanddeutschen. Seit fast hundert Jahren bot sich für viele Nachkommen der deutschen Siedler zum ersten Mal die Möglichkeit, nach Deutschland zurückzukehren. Es war die Rückkehr in eine Heimat, die ihre Vorfahren vor dreihundert Jahren verlassen hatten. Eine Heimat, die ihnen die Staatsbürgerschaft zusicherte und auch ihren Familien die Einreise und die Aufnahme des Einbürgerungsprozesses gewährte.
Ende gut, alles gut? Nein, wieder einmal ist die Realität komplexer. Dreihundert Jahre Isolation von der deutschen Kulturentwicklung haben zwangsläufig Spuren hinterlassen. Da ist manches Wort im Sprachschatz geblieben, das in Deutschland altbacken klingt. Da sind manche Ess- und Trinkgewohnheiten, die aus der russischen Kultur hängen geblieben sind[10]. Die deutsche Heimat, das stellten viele Rückkehrer schnell fest, war fremder als erwartet.
Die Spannung einer fremden Heimat habe ich selbst erlebt. Ich bin in Deutschland aufgewachsen und habe trotzdem den größten Teil meiner Kindheits- und Jugendzeit mit einem tiefen Gefühl des Fremdseins mit mir geschleppt. Schon in der Grundschule wollte ich sein wie die anderen Kinder, aber merkte immer und immer wieder, dass ich anders geprägt war als sie. Wir schauten zu Hause Nu Pogodi! statt der Sesamstraße und feierten unsere Kindergeburtstage mit Cousins und Cousinen statt mit Kindergarten- und Schulfreunden. Ich sehe es als ein Geschenk des Himmels, dass ich in den letzten Jahren viele Antworten auf die Fragen gefunden habe, die mich seit meiner Kindheit beschäftigt haben.
Man sollte meinen, dass Menschen, deren Familiengeschichte so sehr von der Spannung von Heimat und Fremde geprägt ist, ein besonderes Maß an Mitgefühl mit anderen Menschen ohne Heimat haben, die auf der Suche nach einer neuen Zukunft in Deutschland aufschlagen. Dass sich manche Russlanddeutsche jedoch von fremdenfeindlicher Rhetorik anstecken lassen und in Parolen gegen Ausländer und Migranten einstimmen, beschämt mich.[11] Denn Fremdenfeindlichkeit ist Jesusfeindlichkeit.
Jesus ist der Fremde
Es ist die Woche vor dem Passah, dem jüdischen Fest der Befreiung aus Ägypten, im Jahr 33. Jesus ist mit seinen engsten Anhängern nach Jerusalem gezogen, um das Fest in der Hauptstadt Judäas zu verbringen.
Und Jesus verliess den Tempel und ging weiter. Und seine Jünger traten zu ihm, um ihm die Bauten des Tempels zu zeigen. Er aber sagte zu ihnen: Nicht wahr, das alles seht ihr? Amen, ich sage euch: Hier wird kein Stein auf dem andern bleiben, jeder wird herausgebrochen.
Als er nun auf dem Ölberg saß, traten seine Jünger zu ihm und sagten, als sie unter sich waren: Sag uns, wann wird das sein, und was ist das Zeichen für dein Kommen und für das Ende dieser Welt?
— Matthäus 24:1-2
Die Jünger sind besorgt. Schon seit Jahren nehmen die Spannungen mit der römischen Besatzungsherrschaft zu. Viele sind der Meinung, dass ein Konflikt unausweichlich ist. Und vielleicht sind sie erstaunt, dass Jesus ihnen keine Hoffnung macht. Im Gegenteil. Jerusalem wird vernichtet, der Tempel zerstört und auf die, die in der Stadt verblieben sind, wartet ein qualvoller Tod[12].
Doch Jesus bleibt nicht bei der Zerstörung Jerusalems stehen. Denn er, der Sohn Gottes, der Menschensohn wird am Ende der Zeit in Herrlichkeit erscheinen und ein letztes, endgültiges Gericht halten.
Wenn aber der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. […] Dann wird der König denen zu seiner Rechten sagen: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, empfangt als Erbe das Reich, das euch bereitet ist von Grundlegung der Welt an. Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen.
— Matthäus 25:31, 34-35
Ich war fremd. Der griechische Text, den Matthäus verfasst hat, benutzt hier das Wort xenos, von dem wir das Wort Xenophobie, Fremdenfeindlichkeit, ableiten. Es ist Jesus offenbar alles andere als egal, wie wir mit Fremden umgehen. Nehmen wir ihn an, reichen wir ihm die Hand? Oder bleibt unsere Tür verschlossen, unser Blick abgewendet? Es ist die ultimative Zuspitzung von Gottes Identifikation mit dem Schwachen und dem Fremden, die sich bereits in Gottes Lebensordnung für das Volk Israel zeigt. Gott hört nicht nur das Rufen der Ausgegrenzten und der Schutzlosen. In Jesus ist er der Fremde, der Ausgegrenzte, der Schutzlose. Und er kann uns morgen früh auf dem Weg zur Arbeit begegnen.
Vielleicht begegnet er uns in einem Bettler, den wir schon hundertmal gesehen haben. Oder in einer Migrantin, die wegen häuslicher Gewalt ihre Wohnung verlassen musste. Oder er begegnet uns in einem Bekannten, dessen Lebenseinstellung und Wertevorstellungen wir nicht nachvollziehen können. Einer Nachbarin, die uns auf die Nerven geht. Einem Verwandten, der von allen anderen wegen seinen unpassenden Bemerkungen gemieden wird.
Jesus möchte uns dort begegnen, wo wir ihn nicht erwarten. Die Frage ist, ob wir bereit sind, ihm mit aller Würde und Ehre, die ihm zusteht, entgegenzutreten.
Alle Fremden, die kommen, sollen aufgenommen werden wie Christus; denn er wird sagen: „Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen.“ Allen erweise man die angemessene Ehre, besonders den Brüdern im Glauben und den Pilgern. Sobald ein Gast gemeldet wird, sollen ihm daher der Obere und die Brüder voll dienstbereiter Liebe entgegeneilen. […]
Allen Gästen begegne man bei der Begrüßung und beim Abschied in tiefer Demut: man verneige sich, werfe sich ganz zu Boden und verehre so in ihnen Christus, der in Wahrheit aufgenommen wird. […]
Vor allem bei der Aufnahme von Armen und Fremden zeige man Eifer und Sorge, denn besonders in ihnen wird Christus aufgenommen. Das Auftreten der Reichen verschafft sich ja von selbst Beachtung.
— Klosterregel des Hl. Benedikt, Kapitel 53: Die Aufnahme von Gästen, um 580 n.Chr.
Bildnachweis des Titelbildes: Bundesarchiv, Bild 183-W0402-500 / Dissmann / CC-BY-SA 3.0. Via Wikimedia Commons.
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In: Fast, Viktor (Hrsg.): Vorübergehende Heimat: 150 Jahre Beten und Arbeiten in Alt-Samara (Alexandertal und Konstantinow). Steinhagen: Samenkorn, 2009 ↩︎
Vgl. Vorübergehende Heimat von Viktor Fast ↩︎
Zum Beispiel ist Kaleb, der wegen seines Gottvertrauens als einer der wenigen seiner Generation das verheißene Land betreten durfte, nach Josua 14:6 ein Kenasiter. Diese Volks- oder Stammgruppe ist nach 1. Mose 15:19 bereits im Land Kanaan ansässig, als Abraham aus Ur aufbricht. ↩︎
Vgl. 5. Mose 7:7, 2. Mose 12:38 ↩︎
Codex Ešnunna, eine altbabylonische Sammlung von Rechtssprüchen ↩︎
Aus Westbrook, Raymond: Law from the Tigris to the Tiber: The Writings of Raymond Westbrook. Pennsylvania: Penn State Press, 2009. Eigene Übersetzung. ↩︎
2. Mose 22:20, 23:9; 3. Mose 19:34; 5. Mose 5:15, 10:19, 15:15, 16:12, 23:8, 24:18, 24:22. ↩︎
Die Einzelheiten in diesem Abschnitt stammen zum größten Teil aus Vorübergehende Heimat von Viktor Fast. ↩︎
Man denke an den Samowar oder das Schaschlik. ↩︎
„Den Russlanddeutschen“ als fremdenfeindlich abzustempeln ist eine gefährliche Verkürzung und die Realität viel komplexer, wie diese Dokumentation sehr gut zeigt. Dabei ist die Integration der Russlanddeutschen eigentlich eine Erfolgsgeschichte. Und als der Krieg in der Ukraine ausbrach, ließen viele Russlanddeutsche alles stehen und liegen, um geflüchteten Ukrainern zur Hilfe zu kommen.
Und dennoch müssen wir Russlanddeutsche (zu denen ich ebenfalls zähle) uns die Frage gefallen lassen, ob unsere Hilfe nur denen gilt, die wir als Landsleute sehen, oder ob Menschen aus anderen Kulturkreisen dieselbe Hilfsbereitschaft entgegenbringen. ↩︎Wie brutal die römische Eroberung Jerusalems im Jahr 70 nach Christus war zeigt diese Dokumentation: The Siege of Jerusalem (70 AD) - The Great Jewish Revolt. In diesem Kontext entfaltet Jesu Warnung in Matthäus 24:15-20 ihre volle Dringlichkeit. ↩︎