Denn sie wissen nicht, was sie tun
Was will ich mit meinem Leben eigentlich anfangen? Diese Frage ging mir neulich wieder durch den Kopf, als ich ein Buch durchgeblättert habe, das ich vor ein paar Jahren gelesen habe. Begin with the end in mind, heißt es da. Beginne mit dem Ziel im Blick. Aber was ist mein Ziel?
Der Autor beschreibt, wie er sich seine eigene Beerdigung vorstellt und überlegt, was die Leute am Ende seines Lebens über ihn sagen sollen. Darauf aufbauend arbeitet er aus, was seine Prinzipien und Werte sind, was seine persönliche Mission ist. Sein Leben richtet er auf dieses Ziel aus und misst alles daran, ob es ihn diesem Ziel näherbringt.
Beim Lesen kommt in mir das Gefühl hoch, dass ich eigentlich keine Ahnung habe, was ich mache. Dass ich irgendwie orientierungslos bin. Dass ich mir auch ein Lebensziel setzen sollte. Aber wie wünsche ich mir, wie mein Leben aussehen soll? Was für Ziele lohnen sich, verfolgt zu werden? Was will ich erreichen? Was soll am Ende meines Lebens über mich gesagt werden?
Während ich über diese Fragen nachdenke, wirkt mein Leben mehr und mehr wie ein Projekt, bei dem ich Ziele setze, Meilensteine definiere, den Fortschritt messe. Smarte Ziele: spezifisch, messbar, aktivierend/erstrebenswert, realistisch, terminiert. Es klingt so, so verlockend, mein Leben planbar, durchschaubar und analysierbar zu machen. Endlich mal alles unter Kontrolle zu haben. Das Chaos zu bändigen und dem Ziel vielleicht langsam, aber dafür stetig entgegenzugehen.
Doch leider funktioniert all das bei mir anscheinend nicht. Denn ich habe es vor einigen Jahren schon einmal versucht, mein Leben auf diese Weise in die Hand zu nehmen. Meine persönliche Mission und Lebensvision aufzuschreiben, daraus Ziele abzuleiten und auf diese dann hinzuarbeiten. Alles in meinem Leben an dieser Vision zu messen und darauf hin auszurichten. Aber leider kam mir so oft das Leben dazwischen, dass ich irgendwann aufgehört habe, über meine Vision und die Ziele, die ich abgeleitet habe, nachzudenken. Weil ich jedes Mal merkte, dass ich es eh nicht schaffe, danach zu leben.
Dabei waren es gute und erstrebenswerte Ziele. Die Lebensvision, die ich mir aufgeschrieben hatte, war es, Jesus zu lieben und von seiner Liebe mehr und mehr erfasst und durchdrungen zu werden. Diese Vision wollte ich alle Bereiche meines Lebens übertragen: Auf der Arbeit meine Liebe zu Jesus sichtbar werden zu lassen. In der Gemeinde anderen Leuten Gottes Liebe zu verkörpern. In meiner Freizeit Gottes Kreativität zum Ausdruck zu bringen.
Aber immer kamen Fragen auf. Dinge, die einfach nicht in mein Konzept passen wollten. Wie soll Gottes Liebe sichtbar werden, wenn ich Sport mache? Wie, wenn ich Bücher lese, weil ich es gerne tue? Und mache ich wirklich deswegen Musik, um Gottes Schönheit auszudrücken? Oder einfach, weil ich Freude daran habe? Bin ich wirklich so selbstlos, wenn ich Freunde treffe, dass ich Jesus verkörpern will? Oder genieße ich es einfach, weil es mich aufbaut und meiner Seele guttut?
All die Planung, die guten Vorsätze und Bemühungen entpuppten sich letztlich als Wunschdenken. Denn was nützen die edelsten Vorsätze, wenn man sie nicht hält? Was hilft es, wenn ich mir große Ziele aufschreibe, wenn ich zwischen Vorlesungen, Prüfungen, Arbeit und Gemeinde zu beschäftigt bin, um auch darüber noch nachzudenken?
Und jetzt also wieder das Buch. Wieder diese Zeile: Begin with the end in mind. Ein Grundsatz, den ich immer noch gut finde. Doch wieder die Frage: Was ist dieses Ziel? Und welcher Weg führt mich dahin? Aber auch eine neue Frage: Was ist das Leben?
Eins habe ich in den letzten Jahren gelernt: Das Leben ist kein Projekt. Wenn es so wäre, hätten wir alle ein Problem. Bei jedem guten Projekt fängt man mit der Planung an, bevor es an die Umsetzung geht. Aber wir alle fangen an zu leben, Beziehungen zu pflegen, Gewohnheiten zu formen, Prägungen zu erfahren noch bevor wir in der Lage sind, uns über das alles Gedanken zu machen. Wir kommen in eine Welt, die wir uns nicht aussuchen und treffen Entscheidungen, bevor wir ihre Reichweite auch nur annähernd erahnen können. Wir fangen das Leben an, bevor wir wissen, wo es hingeht und bevor wir in der Lage sind, uns überhaupt Ziele zu setzen.
Darin, so erkenne ich heute, lag mein Trugschluss, als ich mir die genannte Vision und die Ziele aufgeschrieben habe. Es war meine Vision. Meine Ziele. Mein Versuch, diese Ziele zu erreichen. Als hätte ich vergessen, dass das Leben außer mir noch weitere Menschen bereithält. Und als hätte ich dabei Gott vergessen.
Ja, Gott war mein Ziel, aber es war mein Weg zu ihm. Es war der Versuch, selbst zu kontrollieren, wie nahe ich ihm bin. Selbst das Ruder des Lebens in der Hand zu halten und zu bestimmen, was mein Weg ist. Und im Rückblick überrascht es mich kein bisschen, dass ich damit gescheitert bin.
Denn das Leben fängt nicht mit mir an, sondern mit Gott. Es fängt damit an, dass er mich erdacht hat, bevor ich zur Welt kam. Dass er sich einen Weg für mich überlegt hat, bevor ich den ersten Schritt getan habe. Dass er mich geliebt und sich nach mir gesehnt hat, bevor ich ihn kannte. Und dass er angefangen hat, mich zu suchen noch bevor ich wusste, wie sehr ich ihn brauche. Das Leben fängt mit Gott an, mit seiner Liebe, seinen Gedanken, seinem Handeln, seinen Zielen, seiner Vision.
Und wenn das Leben mit Gott anfängt, muss das Leben selbst am Ende ein Geheimnis bleiben. So wenig wir Gott begreifen, durchanalysieren können, so wenig auch das Leben. So wenig wir ihn planen und berechnen können, können wir auch unser Leben kontrollieren. Wie Gott größer ist, als wir es je begreifen könnten, so auch das Leben.
Oder anders gesagt: Das Leben ist kein Projekt der Selbstverwirklichung. Es geht nicht darum, alles rauszuholen, was ich kriegen kann. Es geht nicht darum, alles zu verwirklichen, was ich in mir zu sehen meine. Es geht nicht darum, jede Lust und jede Begierde zu befriedigen. Sondern es geht darum, zu Gott Ja zu sagen.
Ja zu Gott zu sagen ist die letztliche Bestimmung, das letztliche Ziel des Menschen. Es beginnt mit einem einfachen Wort, das wir aussprechen. Und doch ist es nicht weniger als eine Lebensaufgabe, dieses Ja Wirklichkeit werden zu lassen. Dieses Ja in jeden Winkel meines Herzens durchdringen zu lassen, bis es jeden Schatten erhellt hat. Mit diesem Ja in jeden Tag zu starten und jeden Abend schlafen zu gehen. Dieses Ja über jeden Bereich meines Lebens auszusprechen und ihm nichts vorzuenthalten.
Diese Ja erfordert Mut, sich in Gottes Hände fallen zu lassen und Vertrauen, dass Gott mich immer mit dem versorgen wird, was ich brauche, dann, wann ich es brauche. Wie auch das Ja der Ehe, das ich meiner Frau gegenüber ausgesprochen habe, erfordert es meine ganze Hingabe. Dass ich nicht nur einen Teil meines Lebens hingebe, sondern das ganze Leben. Dass ich meine Wünsche hinten anstelle, mein eigenes Glück aufopfere, um die Liebe meines Lebens glücklich zu machen.
He who loves little, gives little. He who loves more, gives more. And he who loves beyond measure, what has he to give? He gives himself!
– St. Porphyrios
Ja, ich weiß nicht, was ich tue. Ich weiß nur, dass Gott mich gerufen hat und es in meinem Leben nichts Höheres gibt, als mein ganzes Leben als Antwort auf diesen Ruf hinzugeben: Ja, Herr, ja!