Die Frage
Ich musste mir selbst einen Tritt geben, um den Mut aufzubringen. Tausend, nein zehntausend Bilder zogen im Bruchteil eines Wimpernschlags an meinem inneren Auge vorüber. Es gab nichts, was ich mir mehr wünschte und doch zugleich nichts, dass ich so sehr fürchtete.
Ich ging ein paar Schritte vom Waldweg ab in das flache Unterholz. Ein paar Zweige brachen unter meinen Schuhsohlen. Ich fasste ihre Hände und beugte mich auf meine Knie.
Ich liebe dich!
Die ersten Worte klangen genau so, wie ich sie mir in den letzten Tagen so oft vorgestellt hatte. Alles in mir war gebündelt, fokussiert auf diesen Augenblick.
Ich will mir dir Familie gründen. Ich will mit dir alt werden.
Obwohl ich jedes Wort eingeübt hatte, traf es mich mit der Wucht von vierzig Sonnen, nein vierzig Universen. Meine Lippen begannen zu beben und meine Augen füllten sich mit Tränen.
Worum ich sie bat, war, mein ganzes Leben an sie zu binden. Mein Glück an ihr Glück zu binden, meine Zukunft an ihre. An ihrer Seite durch jede Höhe und jede Tiefe zu gehen. Mit ihr in den siebten Himmel zu schweben und die tiefste Finsternis zu durchwachen.
Willst du mich heiraten?
Nicht nur ich weinte, auch ihr Gesicht war inzwischen völlig von Tränen überströmt. Wir sahen uns tief in die Augen und es war, als würde die Zeit stehen bleiben und nur noch Ewigkeit übrig bleiben.
Ja, ich will.
Ich frage mich manchmal, was Jesus gefühlt hat, als er am Kreuz hing. Als die ganze Welt ihn verlassen hatte, um ihm beim Dahinsterben zu beobachten.
War er zornig über das Unrecht, das ihm zugefügt würde? Sehnte er sich einfach nur danach, Zuhause bei seinem Vater zu sein? Ertrug er es geduldig, weil er um seine Auferstehung drei Tage später wusste?
Es war vor dem Passafest und Jesus wusste, dass für ihn die Stunde gekommen war, aus dieser Welt zum Vater hinüberzugehen, und da er die Seinen in der Welt liebte, erwies er ihnen seine Liebe, bis es vollbracht war.
– Johannes 13:1
Wenn ich darüber nachdenke, bekomme ich den Eindruck, dass das Kreuz der Ort ist, an dem sich Jesus vor dir niederkniet und dich fragt, ob du ihn heiraten willst.
Ich weiß, das klingt völlig absurd.
Es klingt völlig absurd, dass Jesus sich an dich binden will. Sein Glück an dein Glück, seine Zukunft an deine Zukunft. Dass er sich danach sehnt, mit dir durch jede Höhe und jede Tiefe zu gehen. Bis in den Tod – und bis ins Leben der Ewigkeit, dem der Tod nichts anhaben kann.
Und er ging ein wenig weiter, fiel auf sein Angesicht und betete: Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber.
– Matthäus 26:39
Der Ort, den Jesus für diesen besonderen Augenblick ausgewählt hat, ist alles andere als romantisch. Er wird Schädelstätte genannt. Ein Massengrab für das, was von nach Tagen oder Wochen am Kreuz von den Menschen übrig war, schließt sich an. Ein Ort, an dem sich die Bosheit und Dunkelheit der ganzen Welt, nein, des ganzen Universums gebündelt hat – vereint, um das Licht ein für alle Mal auszulöschen.
Jesus weiß genau, was ihn erwartet, als Judas mit den Tempelwachen erscheint, um ihn auszuliefern. Er weiß, welche Qualen und Schmerzen vor ihm liegen, als er zur Folter geführt wird. Er weiß um die Einsamkeit, die ihn bald einhüllt, als ihn ein Freund nach dem anderen im Stich lässt – die einzigen Menschen, die noch zu ihm gehalten haben.
Und noch viel mehr weiß er darum, wie es sein Herz wieder und wieder durchbohren wird, wenn ein Mensch seine Liebe ablehnt. Sich von ihm lossagt und den ewigen Bund nicht eingehen will.
Einige Wochen später fragt Jesus erneut:
Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich?
– Johannes 21:16
Setz mal deinen Namen in diesen Vers ein. Wie mag das klingen? Wie mag sich das anfühlen? Der Klang der sanften Stimme Jesu. Der warme Atem, der aus seiner durchbohrten, und doch heilen Lunge strömt. Worte, die zugleich durchbohren und heilen.
Simon, Sohn des Johannes.
Jesus nennt dich bei Namen. Nicht dem Namen, den dir vielleicht deine Mitschüler gegeben haben. Auch nicht dem Namen, den deine Eltern sich für dich überlegt haben. Er nennt dich bei dem Namen, den du ganz tief in deinem Herzen, im Innersten deines Wesens trägst. Dem Namen, den er sich für dich ausgedacht hat und der nur dir gehört.
Liebst du mich?
Was soll man auf diese Frage antworten, nachdem man Jesus im Stich gelassen und ihn verleugnet hat? Wirkt nicht alles, wozu wir im Stande sind, verschwindend klein vor der Liebe, die er uns erwiesen hat? Sind wir in der Lage, auch nur den Bruchteil eines Funkens seiner Liebe zu empfinden, geschweige denn unter Beweis zu stellen?
Aber Jesus gibt ihm eine zweite Chance. Auf die große Frage auf Golgatha hat Petrus offenbar mit Nein geantwortet, als er weglief. Doch anstatt sich verletzt von ihm abzuwenden, stellt Jesus ihm die Frage erneut.
Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich?
Der sagt zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe.
– Johannes 21:16
Petrus weiß genau, dass alles, was er an Liebe aufbringen kann, niemals auch nur annähernd an die Liebe Jesu heranreichen wird. Er weiß, dass er sich mit jeder Faser seiner Seele danach sehnt, Jesus zu lieben. Dass sich sein Herz danach verzehrt, vom Feuer der göttlichen Liebe verzehrt zu werden. Und dass er dazu nicht imstande ist. Dass er weder die erste, noch die zweite Chance verdient hat.
Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich?
Der sagt zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe.
Er sagt zu ihm: Hüte meine Schafe!
– Johannes 21:16
Auch Jesus weiß um die Unvollkommenheit der Liebe von Petrus. Doch er weist ihn nicht ab, er weist ihn nicht zurecht. Nein, er nimmt ihn an. Und was Jesus ihm sagt, drückt mehr aus, als es eine Umarmung je tun könnte.
Hüte meine Schafe!
Die Worte bohren sich tief in das Herz von Petrus. Jesus nimmt ihn nicht nur wieder an. Viel mehr noch: Er überträgt ihm Verantwortung in seinem Reich! Er traut ihm zu, was sich Petrus in diesem Augenblick selbst nicht zutraut: Die Herde Jesu zu hüten. Mit der gleichen Liebe und Hingabe, wie Petrus sie am guten Hirten, an Jesus selbst erlebt hat. Mit der gleichen Selbstaufopferung. Mit der gleichen Bereitschaft, aus Liebe in den Tod zu gehen.
Überlieferungen erzählen, dass Petrus zur Zeit der Christenverfolgung in Rom dreißig Jahre später den Entschluss fasste, die Stadt heimlich zu verlassen. Doch als er Rom gerade hinter sich gelassen hatte, erscheint ihm der auferstandene Jesus, der ihm entgegen kommt. Wohin gehst du, Herr? fragt Petrus betroffen. Nach Rom, um mich abermals kreuzigen zu lassen, entgegnet ihm dieser.
Augenblicklich ist Petrus ist klar, dass diese Stadt nicht verlassen kann. Er kann es nicht übers Herz bringen, seinen Herrn, den er so sehr liebt, abermals zu verleugnen. Doch diesmal ist sein Herz voller Freude und Liebe. Mit Herz und Mund voller Loblieder kehrt er zurück zu den Christen Roms – wohl wissend, dass es sein Todesurteil ist. Wenig später wird er dort der Gottlosigkeit schuldig gesprochen und zum Tod verurteilt.
Zum Tod am Kreuz.