Kleinheit und wahre Größe

Kleinheit und wahre Größe

Manchmal stehe ich abends nach Sonnenuntergang auf meinem Balkon im siebten Stock und fühle mich klein.

Mein Blick schweift über die Wohnblocks am Stadtrand, die ich von meinem Balkon aus überblicken kann. Es ist dunkel, Straßenlaternen erhellen die Straßenzüge in blassem Gelb-Orange. In einigen Fenstern brennt noch Licht. Ich bin nicht der Einzige, der noch wach ist.

Während ich die Szene betrachte, gehen mir Gedanken durch den Kopf. Wie viele Menschen wohnen in den Häusern, die ich von hier überblicke? Wenn in jeder Wohnung etwa zwei Menschen wohnen… Wie viele Wohnungen haben die Häuser hier… Wie viele Häuser sehe ich…

Am Ende schätze ich, dass ich einer von vielleicht 500, vielleicht 1000 oder 2000 Menschen bin, die in den Häuserblocks um mich herum leben. Einer von vielleicht 100, die gerade wach sind.

Dann fühle ich mich klein.

Und dann blicke ich in der kühlen, wolkenlosen Nacht nach oben und betrachte die paar Sterne am Himmel, die sich mir in dieser mondhellen Nacht zeigen. Wie viele Sterne kann ich gerade mit bloßem Auge erblicken? Wie weit sind die Sterne entfernt?

Wieder fühle ich mich klein. Und unbedeutend. Einer von paar Tausend Menschen in meinem Viertel. Auf einem kleinen Planeten in einem so großen All. Mache ich einen Unterschied? Bin ich nur ein Bruchteil einer Statistik? Bin ich wirklich mehr als ein kleiner Tropfen im Ozean?

Wenn ich deinen Himmel sehe, das Werk deiner Finger,
den Mond und die Sterne, die du hingesetzt hast:
Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst,
und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?
– Psalm 8:4-5

Ich bin nicht alleine mit dem Gedanken. David muss sich ähnlich gefühlt haben, als er diesen Psalm schrieb. Vielleicht konnte er noch mehr Sterne erkennen in einer Welt, die die Lichtverschmutzung noch nicht erfunden hatte, in der die Städte nicht überzogen waren von immerzu blitzenden und blinkenden Leuchtfeuern. Wie viele Sterne konnte er wohl mit bloßem Auge zählen? Hunderte? Tausende?

Aber David erkennt noch eine zweite Sache:

Du hast ihn wenig geringer gemacht als Gott,
mit Ehre und Hoheit hast du ihn gekrönt.
Du hast ihn zum Herrscher gesetzt über die Werke deiner Hände,
alles hast du ihm unter die Füsse gelegt:
Schafe und Rinder, sie alle,
dazu auch die Tiere des Feldes,
die Vögel des Himmels und die Fische im Meer,
was da die Pfade der Meere durchzieht.
– Psalm 8:6-9

Was David ehrfürchtig bekennt, ist für mich längst Selbstverständlichkeit geworden, zu banal, um darüber zu staunen. Natürlich haben wir uns die Erde untertan gemacht. Gibt es eine Macht der Natur, die wir nicht zähmen können? Eine Tierart, die wir nicht nach Belieben auszurotten vermögen? Aber worüber David staunt ist mehr als bloß die Macht des Menschen, das Tierreich zu bändigen.

Und Gott schuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er sie. Und Gott segnete sie, und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Erde und macht sie untertan, und herrscht über die Fische des Meers und über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf der Erde regen.
– 1. Mose 1:27-28

Gott hat uns dazu geschaffen, uns die Erde untertan zu machen, über das Tierreich zu herrschen. Aber das ist nicht unsere erste Bestimmung. Unsere erste Bestimmung ist, Gottes Ebenbild zu sein. Wir sollen Herrscher sein, weil wir Gottes Ebenbilder sind. Und als genau diese Ebenbilder sollen wir auch unsere Herrschaft ausüben. Auf die gleiche Weise, wie Gott es tut: In perfekter Liebe, in aufopfernder Hingabe. Aber wir Menschen haben aus dieser Verantwortung eine mittlere Katastrophe gemacht.

Es beginnt damit, dass wir uns so gerne groß machen. In der Bibel wird das Stolz und Hochmut genannt, das moderne Wort dafür ist Egoismus. Zuerst komme ich – und zwar möglichst viel davon. Das Zeitalter von Selfies und endloser Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken lässt grüßen. Wer träumt nicht davon, einst groß rauszukommen? Etwas wahrhaft Großartiges zu tun? Dass die Welt endlich erkennt, was für ein Geschenk ich für sie bin?

Da überrascht es nicht, dass eine von Gott sehr gut geschaffene Welt rapide den Bach heruntergeht. Weil keiner nachgeben will. Weil jeder Angst hat zu kurz zu kommen und deshalb die Extrameile geht, um sicherzustellen, dass für mich gesorgt wird.

Aber damit findet Gott sich nicht einfach ab. Er fegt nicht alles vom Tisch, weil er die Nase voll hat. Er kam selbst, hat sich selbst klein gemacht. Buchstäblich! Als er in Jesus als Kind zur Welt kommt. Denk mal darüber nach! Als hilfloses, schreiendes, vielleicht manchmal nerviges Kind. Kennst du in deinem Umfeld Familien mit kleinen Kindern? So einer ist Jesus geworden. Laut, lebhaft, auf Hilfe angewiesen.

Und wäre das nicht genug, erniedrigt er sich noch mehr. Noch viel, viel mehr. Als er an Karfreitag gekreuzigt wird, stirbt er einen Tod, der so unglaublich erniedrigend war, dass die Römer ihn nicht für die eigenen Bürger zuließen. Weil es erstens so brutal und erniedrigend war. Und zweitens nach Ansicht der Römer alle nicht-römischen Völker keine „richtigen“ Menschen waren und die Römer deshalb mit ihnen verfahren konnten, wie sie wollten. Das nimmt Jesus auf sich.

Er erniedrigte sich
und wurde gehorsam bis zum Tod,
bis zum Tod am Kreuz.
Deshalb hat Gott ihn auch über alles erhöht
und ihm den Namen verliehen,
der über allen Namen ist,
damit im Namen Jesu
sich beuge jedes Knie,
all derer, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind,
und jede Zunge bekenne,
dass Jesus Christus der Herr ist,
zur Ehre Gottes, des Vaters.
– Philipper 2:8-11

Das ist die Logik im Reich Gottes. Wer sich erniedrigt, den wird Gott erhöhen. Weil er selbst diesen Weg vorangegangen ist. In seiner Erniedrigung am Kreuz hat er nicht nur wahre Größe und wahre Liebe gezeigt. Er hat gerade die Mächte, die uns in unserem Größenwahn gefangen hielten, ausgelöscht. Das Licht der Liebe – dieser Liebe, die sich bis zum Kreuz erniedrigt – ist stärker als die Finsternis. Das Licht hat die Finsternis besiegt. Die Liebe hat den Hass und den Größenwahn überwunden. Das Leben ist stärker als der Tod.

Und dann macht es mir nichts mehr aus, mich klein zu fühlen.